Das alte Leben, das ihm so theuer war, nahm hier auf's neue seinen Anfang. Die Bücher, die Studien, der gesellige Ver- kehr, der Austausch, die Friktion der Geister, das Blitzen der Ge- danken -- er hing an dieser Art der Existenz, und doch, wenn er sie hatte, genügte sie ihm nicht. Er kam zu keinem Glück, wenigstens damals nicht. Das Gegenwärtige immer klein findend, von der Zukunft und sich selber das Höchste wollend, rang er einer Traumwelt nach und verlor die wirkliche Welt unter den Füßen. Er gehörte so recht zu denen, die den Genuß nicht genie- ßen, weil sie selbst im Besitz des Höchsten und Liebsten die Vor- stellung nicht aufgeben mögen, daß es noch ein Höheres und Lie- beres giebt.
In diesem Sinne schreibt Rahel zu Anfang des Jahres 1811. "Und wie treibens unsere Besten? Ruhm wollen sie, wollen zeh- ren, ohne beizutragen, und -- nichts kriegen sie. Besseres noch, so denken sie, werden sie finden, und -- nichts finden sie. Statt ihren wahren Freunden selbst Freund zu sein, statt ihnen etwas zu leisten und sich des Glückes zu freuen, das sie durch Opfer und Gutthat geschaffen, vergeuden sie ihre beste Kraft in der Beschäf- tigung mit ihren Plänen, im Kampf mit Phantomen. Marwitz hab ich dies noch nie gesagt, weil ich ihn zu sehr liebe und es zu persönlich würde."
So klagte Rahel über ihren "liebsten Freund" zu einer Zeit, wo täglicher Verkehr und rückhaltloses Vertrauen ihr die beste Ge- legenheit gab, einen Einblick in die Vorgänge seines Herzens zu gewinnen.
"Er war des Lebens früh überdrüssig und durchaus ermüdet vom täglichen Einerlei, wenn das Gewaltigste sich nicht von Tage zu Tage jagte." So beschreibt ihn sein älterer Bruder. Er war ruhelos, unbefriedigt, unglücklich. Aber wir würden ihm Unrecht thun, wenn wir dieses Unbefriedigtsein, diesen Lebensüberdruß (Er- scheinungen, die freilich mitunter an die krankhaften Stimmungen Heinrich von Kleists erinnerten) ausschließlich auf Rechnung eines überreizten Gemüthes setzen wollten. Er war unstät, ruhelos, weil
Das alte Leben, das ihm ſo theuer war, nahm hier auf’s neue ſeinen Anfang. Die Bücher, die Studien, der geſellige Ver- kehr, der Austauſch, die Friktion der Geiſter, das Blitzen der Ge- danken — er hing an dieſer Art der Exiſtenz, und doch, wenn er ſie hatte, genügte ſie ihm nicht. Er kam zu keinem Glück, wenigſtens damals nicht. Das Gegenwärtige immer klein findend, von der Zukunft und ſich ſelber das Höchſte wollend, rang er einer Traumwelt nach und verlor die wirkliche Welt unter den Füßen. Er gehörte ſo recht zu denen, die den Genuß nicht genie- ßen, weil ſie ſelbſt im Beſitz des Höchſten und Liebſten die Vor- ſtellung nicht aufgeben mögen, daß es noch ein Höheres und Lie- beres giebt.
In dieſem Sinne ſchreibt Rahel zu Anfang des Jahres 1811. „Und wie treibens unſere Beſten? Ruhm wollen ſie, wollen zeh- ren, ohne beizutragen, und — nichts kriegen ſie. Beſſeres noch, ſo denken ſie, werden ſie finden, und — nichts finden ſie. Statt ihren wahren Freunden ſelbſt Freund zu ſein, ſtatt ihnen etwas zu leiſten und ſich des Glückes zu freuen, das ſie durch Opfer und Gutthat geſchaffen, vergeuden ſie ihre beſte Kraft in der Beſchäf- tigung mit ihren Plänen, im Kampf mit Phantomen. Marwitz hab ich dies noch nie geſagt, weil ich ihn zu ſehr liebe und es zu perſönlich würde.“
So klagte Rahel über ihren „liebſten Freund“ zu einer Zeit, wo täglicher Verkehr und rückhaltloſes Vertrauen ihr die beſte Ge- legenheit gab, einen Einblick in die Vorgänge ſeines Herzens zu gewinnen.
„Er war des Lebens früh überdrüſſig und durchaus ermüdet vom täglichen Einerlei, wenn das Gewaltigſte ſich nicht von Tage zu Tage jagte.“ So beſchreibt ihn ſein älterer Bruder. Er war ruhelos, unbefriedigt, unglücklich. Aber wir würden ihm Unrecht thun, wenn wir dieſes Unbefriedigtſein, dieſen Lebensüberdruß (Er- ſcheinungen, die freilich mitunter an die krankhaften Stimmungen Heinrich von Kleiſts erinnerten) ausſchließlich auf Rechnung eines überreizten Gemüthes ſetzen wollten. Er war unſtät, ruhelos, weil
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Das alte Leben, das ihm ſo theuer war, nahm hier auf’s
neue ſeinen Anfang. Die Bücher, die Studien, der geſellige Ver-
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danken — er hing an dieſer Art der Exiſtenz, und doch, wenn
er ſie hatte, genügte ſie ihm nicht. Er kam zu keinem Glück,
wenigſtens damals nicht. Das Gegenwärtige immer klein findend,
von der Zukunft und ſich ſelber das Höchſte wollend, rang
er einer Traumwelt nach und verlor die wirkliche Welt unter den
Füßen. Er gehörte ſo recht zu denen, die den Genuß nicht genie-
ßen, weil ſie ſelbſt im Beſitz des Höchſten und Liebſten die Vor-
ſtellung nicht aufgeben mögen, daß es noch ein Höheres und Lie-
beres giebt.
In dieſem Sinne ſchreibt Rahel zu Anfang des Jahres 1811.
„Und wie treibens unſere Beſten? Ruhm wollen ſie, wollen zeh-
ren, ohne beizutragen, und — nichts kriegen ſie. Beſſeres noch,
ſo denken ſie, werden ſie finden, und — nichts finden ſie. Statt
ihren wahren Freunden ſelbſt Freund zu ſein, ſtatt ihnen etwas zu
leiſten und ſich des Glückes zu freuen, das ſie durch Opfer und
Gutthat geſchaffen, vergeuden ſie ihre beſte Kraft in der Beſchäf-
tigung mit ihren Plänen, im Kampf mit Phantomen. Marwitz
hab ich dies noch nie geſagt, weil ich ihn zu ſehr liebe
und es zu perſönlich würde.“
So klagte Rahel über ihren „liebſten Freund“ zu einer Zeit,
wo täglicher Verkehr und rückhaltloſes Vertrauen ihr die beſte Ge-
legenheit gab, einen Einblick in die Vorgänge ſeines Herzens zu
gewinnen.
„Er war des Lebens früh überdrüſſig und durchaus ermüdet
vom täglichen Einerlei, wenn das Gewaltigſte ſich nicht von Tage
zu Tage jagte.“ So beſchreibt ihn ſein älterer Bruder. Er war
ruhelos, unbefriedigt, unglücklich. Aber wir würden ihm Unrecht
thun, wenn wir dieſes Unbefriedigtſein, dieſen Lebensüberdruß (Er-
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Heinrich von Kleiſts erinnerten) ausſchließlich auf Rechnung eines
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 1859 bzw. im Morgenblatt für gebildete Leser (zwischen 1860 und 1864). Als Buchausgabe erschien der zweite Band "Das Oderland, Barnim, Lebus" 1863 bei W. Hertz in Berlin. In der Folge wurde der Text von Fontane mehrfach überarbeitet und erweitert. Für das DTA wurde die erste Auflage der Buchausgabe digitalisiert.
Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 2: Das Oderland. Berlin, 1863, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg02_1863/410>, abgerufen am 22.11.2024.
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