Ich bin vielmehr der Ansicht, daß wir es hier mit einer im Lauf der Zeit, je nach dem Bedürfniß der Erzähler und Hörer, mannigfach gemodelten Sage zu thun haben, der, namentlich im 15. Jahrhundert, wo der Verfall des Mönchsthums längst begonnen hatte, ein Liebes-Abenteuer, oder doch der Ver- dacht eines solchen, statt des ursprünglichen Motivs, nämlich des Racenhasses, untergeschoben wurde.
Soweit meine Zweifel. Auf der andern Seite deutet freilich (von der Backtrog-Episode und andern nebensächlichen Zügen abgesehn) alles auf ein Faktum hin, das in seinem ganzen äußerlichen Verlauf, durch fast 700 Jahre, mit großer Treue überliefert worden ist. Eine Menge kleiner Züge vereinigen sich, um es mindestens höchst glaubhaft zu machen, daß Sieboldus der erste Abt war, daß er wirk- lich von den Wenden erschlagen wurde, daß sein Eintritt in ein Nahmitzer Fischerhaus das Signal zum Aufstand gab, und daß er, auf der Flucht einen Baum erkletternd, auf diesem Baum sein Versteck, dann unter demselben seinen Tod fand. Die Ueberlieferungen nun, sachliche sowohl wie Erzäh- lungen im Volksmund, die sich auf diese Punkte hin vereinigen, sind folgende:
Im Querschiff der Lehniner Kirche hängt bis diesen Tag ein altes Bild von etwa 3 Fuß Höhe und 5 Fuß Länge, auf dem wir in zwei Längsschichten oben die Ermordung des Abtes, unten den Auszug der Mönche und die Erscheinung der Jung- frau Maria dargestellt finden. Vor dem Munde der Maria schwebt der bekannte weiße Zettel, auf dem wir die schon oben citirten Worte lesen: Redeatis, nihil deerit vobis. Rechts in der Ecke des Bildes bemerken wir eine zweite lateinische, längere Inschrift, die da lautet:
Anno milleno bis minus uno Sub patre Roberto coepit Cistertius ordo. Annus millenus centenus et octuagenus Quando fuit Christi, Lenyn, fundata fuisti Sub patre Seboldo, quam Marchio contulit Otto
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Ich bin vielmehr der Anſicht, daß wir es hier mit einer im Lauf der Zeit, je nach dem Bedürfniß der Erzähler und Hörer, mannigfach gemodelten Sage zu thun haben, der, namentlich im 15. Jahrhundert, wo der Verfall des Mönchsthums längſt begonnen hatte, ein Liebes-Abenteuer, oder doch der Ver- dacht eines ſolchen, ſtatt des urſprünglichen Motivs, nämlich des Racenhaſſes, untergeſchoben wurde.
Soweit meine Zweifel. Auf der andern Seite deutet freilich (von der Backtrog-Epiſode und andern nebenſächlichen Zügen abgeſehn) alles auf ein Faktum hin, das in ſeinem ganzen äußerlichen Verlauf, durch faſt 700 Jahre, mit großer Treue überliefert worden iſt. Eine Menge kleiner Züge vereinigen ſich, um es mindeſtens höchſt glaubhaft zu machen, daß Sieboldus der erſte Abt war, daß er wirk- lich von den Wenden erſchlagen wurde, daß ſein Eintritt in ein Nahmitzer Fiſcherhaus das Signal zum Aufſtand gab, und daß er, auf der Flucht einen Baum erkletternd, auf dieſem Baum ſein Verſteck, dann unter demſelben ſeinen Tod fand. Die Ueberlieferungen nun, ſachliche ſowohl wie Erzäh- lungen im Volksmund, die ſich auf dieſe Punkte hin vereinigen, ſind folgende:
Im Querſchiff der Lehniner Kirche hängt bis dieſen Tag ein altes Bild von etwa 3 Fuß Höhe und 5 Fuß Länge, auf dem wir in zwei Längsſchichten oben die Ermordung des Abtes, unten den Auszug der Mönche und die Erſcheinung der Jung- frau Maria dargeſtellt finden. Vor dem Munde der Maria ſchwebt der bekannte weiße Zettel, auf dem wir die ſchon oben citirten Worte leſen: Redeatis, nihil deerit vobis. Rechts in der Ecke des Bildes bemerken wir eine zweite lateiniſche, längere Inſchrift, die da lautet:
Anno milleno bis minus uno Sub patre Roberto coepit Cistertius ordo. Annus millenus centenus et octuagenus Quando fuit Christi, Lenyn, fundata fuisti Sub patre Seboldo, quam Marchio contulit Otto
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Ich bin vielmehr der Anſicht, daß wir es hier mit einer
im Lauf der Zeit, je nach dem Bedürfniß der Erzähler und
Hörer, mannigfach gemodelten Sage zu thun haben, der,
namentlich im 15. Jahrhundert, wo der Verfall des Mönchsthums
längſt begonnen hatte, ein Liebes-Abenteuer, oder doch der Ver-
dacht eines ſolchen, ſtatt des urſprünglichen Motivs, nämlich
des Racenhaſſes, untergeſchoben wurde.
Soweit meine Zweifel. Auf der andern Seite deutet
freilich (von der Backtrog-Epiſode und andern nebenſächlichen
Zügen abgeſehn) alles auf ein Faktum hin, das in ſeinem
ganzen äußerlichen Verlauf, durch faſt 700 Jahre, mit
großer Treue überliefert worden iſt. Eine Menge kleiner
Züge vereinigen ſich, um es mindeſtens höchſt glaubhaft
zu machen, daß Sieboldus der erſte Abt war, daß er wirk-
lich von den Wenden erſchlagen wurde, daß ſein Eintritt
in ein Nahmitzer Fiſcherhaus das Signal zum Aufſtand gab,
und daß er, auf der Flucht einen Baum erkletternd, auf
dieſem Baum ſein Verſteck, dann unter demſelben ſeinen Tod
fand. Die Ueberlieferungen nun, ſachliche ſowohl wie Erzäh-
lungen im Volksmund, die ſich auf dieſe Punkte hin vereinigen,
ſind folgende:
Im Querſchiff der Lehniner Kirche hängt bis dieſen Tag
ein altes Bild von etwa 3 Fuß Höhe und 5 Fuß Länge, auf
dem wir in zwei Längsſchichten oben die Ermordung des Abtes,
unten den Auszug der Mönche und die Erſcheinung der Jung-
frau Maria dargeſtellt finden. Vor dem Munde der Maria
ſchwebt der bekannte weiße Zettel, auf dem wir die ſchon oben
citirten Worte leſen: Redeatis, nihil deerit vobis. Rechts in
der Ecke des Bildes bemerken wir eine zweite lateiniſche, längere
Inſchrift, die da lautet:
Anno milleno bis minus uno
Sub patre Roberto coepit Cistertius ordo.
Annus millenus centenus et octuagenus
Quando fuit Christi, Lenyn, fundata fuisti
Sub patre Seboldo, quam Marchio contulit Otto
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Forts… [mehr]
Fontanes "Wanderungen" erschienen zuerst in Fortsetzungen in der Neuen Preußischen (Kreuz-)Zeitung 1859 bzw. im Morgenblatt für gebildete Leser (zwischen 1860 und 1864). Als Buchausgabe erschien der dritte Band "Ost-Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg" 1873 bei W. Hertz in Berlin. In der Folge wurde der Text von Fontane mehrfach überarbeitet und erweitert. Für das DTA wurde die erste Auflage der Buchausgabe digitalisiert.
Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 3: Ost-Havelland. Berlin, 1873, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg03_1873/101>, abgerufen am 28.11.2024.
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