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Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 4: Spreeland. Berlin, 1882.

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Nach Ablauf eines Jahres kehrte sie von Kaiserswerth nach
Siethen zurück, um daselbst ein Kinder-Asyl in's Leben zu rufen.
Ein in dem reizenden Uetz bei Potsdam befindliches Haus,
darin schon zwei Kaiserswerther Diakonissinnen in Thätigkeit waren,
sollte zum unmittelbaren Vorbilde genommen werden. Und dies
geschah auch. Es war aber ein schweres Beginnen, am schwersten
in Folge von allerlei Kritik, die das Unternehmen gerade von be-
freundeter oder doch halb befreundeter Seite her zu erfahren hatte.
"Das solle Hülfe sein," hieß es, "aber es sei keine. Für die Tage-
löhner sei nun mal das Beste, wenn ihre Kinder auch wieder auf-
wüchsen wie sie selber aufgewachsen seien. Und was die Mütter
angehe, so taug' es nichts, ihnen die Sorge für ihre Kinder ab-
nehmen zu wollen." All dies traf um so tiefer, als ihm ein
Theil Alltags-Wahrheit zur Seite stand, aber sie kämpfte treu
gegen alle laut werdenden Zweifel an, besonders auch gegen die
eigenen, und rang sich immer wieder zu dem schönen Glauben
durch, daß sich ihr Wunsch mit dem Willen Gottes vereinige.

Ich hatte das Glück gehabt, ihr in den letzten Monaten ihres
Kaiserswerther Aufenthaltes näher zu treten, und so kam es, daß
sie mich bei sich zu sehen wünschte. Sie schrieb in diesem Sinne
von Siethen aus an Pastor Fliedner und ich selbst erhielt einen
Brief, aus dem ich hier folgende Stelle gebe: "Nichts ist schwerer,
als in Einfalt des Herzens bleiben; es muß vor allem erbeten
werden, und das wollen wir treulich für einander thun."

In diesen wenigen Zeilen spricht sich ihr allereigenstes Wesen
aus; sie hatte von dieser Herzenseinfalt mehr denn irgendwer,
den ich kennen gelernt, aber freilich zugleich auch die vollkommenste
Demuth und sah in sich nichts von all' dem Schönen und Bevor-
zugten, das ihr durch Gottes Gnade so reichlich zu Theil geworden
war. Es war ihr eben Bedürfniß, andre Menschen höher zu
stellen als sich selbst, und nichts lag ihr ferner als die Vorstellung,
daß sie selber ein Vorbild sei.

Ich durfte der an mich ergangenen Aufforderung folgen und
traf noch zur Einweihung der Anstalt in Siethen ein. Es war
zur Begründung derselben ein Müllerhaus angekauft worden,
dessen Besitzer, ein streng kirchlicher Mann, einige Jahre vorher
nach Amerika ausgewandert war. Alles gedieh in diesem seinem

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Nach Ablauf eines Jahres kehrte ſie von Kaiſerswerth nach
Siethen zurück, um daſelbſt ein Kinder-Aſyl in’s Leben zu rufen.
Ein in dem reizenden Uetz bei Potsdam befindliches Haus,
darin ſchon zwei Kaiſerswerther Diakoniſſinnen in Thätigkeit waren,
ſollte zum unmittelbaren Vorbilde genommen werden. Und dies
geſchah auch. Es war aber ein ſchweres Beginnen, am ſchwerſten
in Folge von allerlei Kritik, die das Unternehmen gerade von be-
freundeter oder doch halb befreundeter Seite her zu erfahren hatte.
„Das ſolle Hülfe ſein,“ hieß es, „aber es ſei keine. Für die Tage-
löhner ſei nun mal das Beſte, wenn ihre Kinder auch wieder auf-
wüchſen wie ſie ſelber aufgewachſen ſeien. Und was die Mütter
angehe, ſo taug’ es nichts, ihnen die Sorge für ihre Kinder ab-
nehmen zu wollen.“ All dies traf um ſo tiefer, als ihm ein
Theil Alltags-Wahrheit zur Seite ſtand, aber ſie kämpfte treu
gegen alle laut werdenden Zweifel an, beſonders auch gegen die
eigenen, und rang ſich immer wieder zu dem ſchönen Glauben
durch, daß ſich ihr Wunſch mit dem Willen Gottes vereinige.

Ich hatte das Glück gehabt, ihr in den letzten Monaten ihres
Kaiſerswerther Aufenthaltes näher zu treten, und ſo kam es, daß
ſie mich bei ſich zu ſehen wünſchte. Sie ſchrieb in dieſem Sinne
von Siethen aus an Paſtor Fliedner und ich ſelbſt erhielt einen
Brief, aus dem ich hier folgende Stelle gebe: „Nichts iſt ſchwerer,
als in Einfalt des Herzens bleiben; es muß vor allem erbeten
werden, und das wollen wir treulich für einander thun.“

In dieſen wenigen Zeilen ſpricht ſich ihr allereigenſtes Weſen
aus; ſie hatte von dieſer Herzenseinfalt mehr denn irgendwer,
den ich kennen gelernt, aber freilich zugleich auch die vollkommenſte
Demuth und ſah in ſich nichts von all’ dem Schönen und Bevor-
zugten, das ihr durch Gottes Gnade ſo reichlich zu Theil geworden
war. Es war ihr eben Bedürfniß, andre Menſchen höher zu
ſtellen als ſich ſelbſt, und nichts lag ihr ferner als die Vorſtellung,
daß ſie ſelber ein Vorbild ſei.

Ich durfte der an mich ergangenen Aufforderung folgen und
traf noch zur Einweihung der Anſtalt in Siethen ein. Es war
zur Begründung derſelben ein Müllerhaus angekauft worden,
deſſen Beſitzer, ein ſtreng kirchlicher Mann, einige Jahre vorher
nach Amerika ausgewandert war. Alles gedieh in dieſem ſeinem

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[387/0403] Nach Ablauf eines Jahres kehrte ſie von Kaiſerswerth nach Siethen zurück, um daſelbſt ein Kinder-Aſyl in’s Leben zu rufen. Ein in dem reizenden Uetz bei Potsdam befindliches Haus, darin ſchon zwei Kaiſerswerther Diakoniſſinnen in Thätigkeit waren, ſollte zum unmittelbaren Vorbilde genommen werden. Und dies geſchah auch. Es war aber ein ſchweres Beginnen, am ſchwerſten in Folge von allerlei Kritik, die das Unternehmen gerade von be- freundeter oder doch halb befreundeter Seite her zu erfahren hatte. „Das ſolle Hülfe ſein,“ hieß es, „aber es ſei keine. Für die Tage- löhner ſei nun mal das Beſte, wenn ihre Kinder auch wieder auf- wüchſen wie ſie ſelber aufgewachſen ſeien. Und was die Mütter angehe, ſo taug’ es nichts, ihnen die Sorge für ihre Kinder ab- nehmen zu wollen.“ All dies traf um ſo tiefer, als ihm ein Theil Alltags-Wahrheit zur Seite ſtand, aber ſie kämpfte treu gegen alle laut werdenden Zweifel an, beſonders auch gegen die eigenen, und rang ſich immer wieder zu dem ſchönen Glauben durch, daß ſich ihr Wunſch mit dem Willen Gottes vereinige. Ich hatte das Glück gehabt, ihr in den letzten Monaten ihres Kaiſerswerther Aufenthaltes näher zu treten, und ſo kam es, daß ſie mich bei ſich zu ſehen wünſchte. Sie ſchrieb in dieſem Sinne von Siethen aus an Paſtor Fliedner und ich ſelbſt erhielt einen Brief, aus dem ich hier folgende Stelle gebe: „Nichts iſt ſchwerer, als in Einfalt des Herzens bleiben; es muß vor allem erbeten werden, und das wollen wir treulich für einander thun.“ In dieſen wenigen Zeilen ſpricht ſich ihr allereigenſtes Weſen aus; ſie hatte von dieſer Herzenseinfalt mehr denn irgendwer, den ich kennen gelernt, aber freilich zugleich auch die vollkommenſte Demuth und ſah in ſich nichts von all’ dem Schönen und Bevor- zugten, das ihr durch Gottes Gnade ſo reichlich zu Theil geworden war. Es war ihr eben Bedürfniß, andre Menſchen höher zu ſtellen als ſich ſelbſt, und nichts lag ihr ferner als die Vorſtellung, daß ſie ſelber ein Vorbild ſei. Ich durfte der an mich ergangenen Aufforderung folgen und traf noch zur Einweihung der Anſtalt in Siethen ein. Es war zur Begründung derſelben ein Müllerhaus angekauft worden, deſſen Beſitzer, ein ſtreng kirchlicher Mann, einige Jahre vorher nach Amerika ausgewandert war. Alles gedieh in dieſem ſeinem 25*

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Bd. 4: Spreeland. Berlin, 1882, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_brandenburg04_1882/403>, abgerufen am 22.11.2024.