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Fontane, Theodor: Schach von Wuthenow. Leipzig, 1883.

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in die Luft, und fing ihn so geschickt wieder auf, daß
weder der Schlüssel noch der Klöppel ihr weh thun
konnte. Zuletzt aber blieb sie stehn und hielt die
linke Hand vor die Augen, weil die niedergehende
Sonne sie blendete.

"Bist Du die Küsterstochter?" fragte Victoire.

"Ja," sagte das Kind.

"Dann bitte, gieb uns den Schlüssel oder komm
mit uns und schließ uns die Kirche wieder auf. Wir
möchten sie gerne sehen, wir und die Herrschaften da."

"Gerne," sagte das Kind und lief wieder vorauf,
überkletterte die Kirchhofsmauer und verschwand als¬
bald hinter den Haselnuß- und Hagebuttensträuchern,
die hier so reichlich standen, daß sie, trotzdem sie noch
kahl waren, eine dichte Hecke bildeten.

Das Tantchen und Victoire folgten ihr und
stiegen langsam über verfallene Gräber weg, die der
Frühling noch nirgends mit seiner Hand berührt
hatte; nirgends zeigte sich ein Blatt, und nur un¬
mittelbar neben der Kirche war eine schattig-feuchte
Stelle wie mit Veilchen überdeckt. Victoire bückte
sich, um hastig davon zu pflücken, und als Schach
und Frau von Carayon im nächsten Augenblick den
eigentlichen Hauptweg des Kirchhofes heraufkamen,
ging ihnen Victoire entgegen und gab der Mutter die
Veilchen.

Die Kleine hatte mittlerweile schon aufgeschlossen

in die Luft, und fing ihn ſo geſchickt wieder auf, daß
weder der Schlüſſel noch der Klöppel ihr weh thun
konnte. Zuletzt aber blieb ſie ſtehn und hielt die
linke Hand vor die Augen, weil die niedergehende
Sonne ſie blendete.

„Biſt Du die Küſterstochter?“ fragte Victoire.

„Ja,“ ſagte das Kind.

„Dann bitte, gieb uns den Schlüſſel oder komm
mit uns und ſchließ uns die Kirche wieder auf. Wir
möchten ſie gerne ſehen, wir und die Herrſchaften da.“

„Gerne,“ ſagte das Kind und lief wieder vorauf,
überkletterte die Kirchhofsmauer und verſchwand als¬
bald hinter den Haſelnuß- und Hagebuttenſträuchern,
die hier ſo reichlich ſtanden, daß ſie, trotzdem ſie noch
kahl waren, eine dichte Hecke bildeten.

Das Tantchen und Victoire folgten ihr und
ſtiegen langſam über verfallene Gräber weg, die der
Frühling noch nirgends mit ſeiner Hand berührt
hatte; nirgends zeigte ſich ein Blatt, und nur un¬
mittelbar neben der Kirche war eine ſchattig-feuchte
Stelle wie mit Veilchen überdeckt. Victoire bückte
ſich, um haſtig davon zu pflücken, und als Schach
und Frau von Carayon im nächſten Augenblick den
eigentlichen Hauptweg des Kirchhofes heraufkamen,
ging ihnen Victoire entgegen und gab der Mutter die
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[53/0065] in die Luft, und fing ihn ſo geſchickt wieder auf, daß weder der Schlüſſel noch der Klöppel ihr weh thun konnte. Zuletzt aber blieb ſie ſtehn und hielt die linke Hand vor die Augen, weil die niedergehende Sonne ſie blendete. „Biſt Du die Küſterstochter?“ fragte Victoire. „Ja,“ ſagte das Kind. „Dann bitte, gieb uns den Schlüſſel oder komm mit uns und ſchließ uns die Kirche wieder auf. Wir möchten ſie gerne ſehen, wir und die Herrſchaften da.“ „Gerne,“ ſagte das Kind und lief wieder vorauf, überkletterte die Kirchhofsmauer und verſchwand als¬ bald hinter den Haſelnuß- und Hagebuttenſträuchern, die hier ſo reichlich ſtanden, daß ſie, trotzdem ſie noch kahl waren, eine dichte Hecke bildeten. Das Tantchen und Victoire folgten ihr und ſtiegen langſam über verfallene Gräber weg, die der Frühling noch nirgends mit ſeiner Hand berührt hatte; nirgends zeigte ſich ein Blatt, und nur un¬ mittelbar neben der Kirche war eine ſchattig-feuchte Stelle wie mit Veilchen überdeckt. Victoire bückte ſich, um haſtig davon zu pflücken, und als Schach und Frau von Carayon im nächſten Augenblick den eigentlichen Hauptweg des Kirchhofes heraufkamen, ging ihnen Victoire entgegen und gab der Mutter die Veilchen. Die Kleine hatte mittlerweile ſchon aufgeſchloſſen

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Zitationshilfe: Fontane, Theodor: Schach von Wuthenow. Leipzig, 1883, S. 53. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/fontane_wuthenow_1883/65>, abgerufen am 26.11.2024.