Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem "Besten" zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben. Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein Dr. Reuter und ein Dr. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab, umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem „Besten“ zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben. Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein Dr. Reuter und ein Dr. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0130" n="121"/> umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem „Besten“ zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben.</p><lb/> <p>Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein <hi rendition="#aq">Dr</hi>. Reuter und ein <hi rendition="#aq">Dr</hi>. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [121/0130]
umher. Es war so reizend, daß ich selbst das Journallesen vergaß, womit ich damals meine Zeit nur allzu gern vertrödelte. Doch nein, nicht vertrödelte. Die Journale paßten ganz genau zu mir, waren mir um einen Schritt voraus, und von einer derartigen Lektüre hat man viel viel mehr, als von solcher, die einem über den Kopf geht. Es ist ein Unsinn, jungen Leuten immer mit dem „Besten“ zu kommen. Man hat sich in das Beste hineinzuwachsen, und das dauert oft recht lange. Schadet auch nichts. Vor allem ist es ganz unnatürlich, mit Goethe zu beginnen. Ich bin glücklich, mit Freiligrath begonnen zu haben.
Um acht oder halb neun war ich dann wieder zurück und an meinem Platz. In der ersten Stunde gab es noch wenig zu thun. Aber bald danach kamen die Doktoren und verschrieben ihre Rezepte. Freilich gab es auch solche, die wenig Praxis hatten und die sich nur einfanden, um sich an einem großen Lesepulte, das für sie hergerichtet war, in die verschiedenen Leipziger Zeitungen zu vertiefen. Für sie war die Apotheke blos Lesehalle, Doktor-Börse, Klub-Lokal. Unter den Aerzten, die zu dieser Gruppe gehörten, interessierten mich besonders zwei, ein Dr. Reuter und ein Dr. Adler. Reuter, ein sehr hübscher, eleganter Herr, war ausgesprochener Sachse, liebte mich aber, weil ich ihm Tag für Tag Gelegenheit gab,
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(2018-07-25T10:02:20Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2018-07-25T10:02:20Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).
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