Fontane, Theodor: Von Zwanzig bis Dreißig. 1. Aufl. Berlin, 1898.Grays Inn Lane hin, auf unsere Wohnung in Camden-Town zufahren mußten. Aber dies links Einbiegen bei Holborn Hill wurde versäumt und unser Cabkutscher zog es statt dessen vor, in gerader Linie zu bleiben. Nun wußt' ich sehr wohl - denn ich kannte London besser, als ich Berlin kenne -, daß man auf diesem Wege gerade so gut nach Norden kam wie durch Grays Inn Lane, aber eben so gut wußt' ich auch, daß die Cabkutscher nie so fuhren, denn dieser gradlinige Weg führte durch eins der schlechtberufensten und zugleich engsten und winklichsten Quartiere von London, durch Clerkenwell. Wie oft, wenn wir, auf unserm täglichen Wege zur Post, Holborn Hill passierten, hatten wir nach diesem übelberufenen Stadtteile scheu hinübergeblickt, denn man konnte nicht leicht etwas Trostloseres und Beängstigenderes sehn, als dies Clerkenwell. Daß es aus halbverfallenen elenden Häusern bestand, hatte nicht viel zu sagen, solche heruntergekommenen Quartiere gab und giebt es in London überall, aber das war das Schlimme, daß man vor etwa zwanzig oder dreißig Jahren den Versuch gemacht hatte, das Alte hier niederzureißen und Neues an seine Stelle zu setzen, in welchem Versuche man, weil die Baugelder ausgingen, stecken geblieben war. Als Folge davon ergab sich nun ein furchtbares Mixtum compositum von Spelunken und unfertigen Neubauten, von welch letztren man nichts sah als zehn oder fünfzehn Fuß hohe Mauern mit halbfertigen Fensteröffnungen. Denn auch diese schnitten wieder in der Mitte ab. Ich wußte, daß dieser Stadtteil meiner Frau jedesmal ein ganz besondres Grauen einflößte, was aber, weit darüber hinaus, die Lage ganz besonders heikel Grays Inn Lane hin, auf unsere Wohnung in Camden-Town zufahren mußten. Aber dies links Einbiegen bei Holborn Hill wurde versäumt und unser Cabkutscher zog es statt dessen vor, in gerader Linie zu bleiben. Nun wußt’ ich sehr wohl – denn ich kannte London besser, als ich Berlin kenne –, daß man auf diesem Wege gerade so gut nach Norden kam wie durch Grays Inn Lane, aber eben so gut wußt’ ich auch, daß die Cabkutscher nie so fuhren, denn dieser gradlinige Weg führte durch eins der schlechtberufensten und zugleich engsten und winklichsten Quartiere von London, durch Clerkenwell. Wie oft, wenn wir, auf unserm täglichen Wege zur Post, Holborn Hill passierten, hatten wir nach diesem übelberufenen Stadtteile scheu hinübergeblickt, denn man konnte nicht leicht etwas Trostloseres und Beängstigenderes sehn, als dies Clerkenwell. Daß es aus halbverfallenen elenden Häusern bestand, hatte nicht viel zu sagen, solche heruntergekommenen Quartiere gab und giebt es in London überall, aber das war das Schlimme, daß man vor etwa zwanzig oder dreißig Jahren den Versuch gemacht hatte, das Alte hier niederzureißen und Neues an seine Stelle zu setzen, in welchem Versuche man, weil die Baugelder ausgingen, stecken geblieben war. Als Folge davon ergab sich nun ein furchtbares Mixtum compositum von Spelunken und unfertigen Neubauten, von welch letztren man nichts sah als zehn oder fünfzehn Fuß hohe Mauern mit halbfertigen Fensteröffnungen. Denn auch diese schnitten wieder in der Mitte ab. Ich wußte, daß dieser Stadtteil meiner Frau jedesmal ein ganz besondres Grauen einflößte, was aber, weit darüber hinaus, die Lage ganz besonders heikel <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0095" n="86"/> Grays Inn Lane hin, auf unsere Wohnung in Camden-Town zufahren mußten. Aber dies links Einbiegen bei Holborn Hill wurde versäumt und unser Cabkutscher zog es statt dessen vor, in gerader Linie zu bleiben. Nun wußt’ ich sehr wohl – denn ich kannte London besser, als ich Berlin kenne –, daß man auf diesem Wege gerade so gut nach Norden kam wie durch Grays Inn Lane, aber eben so gut wußt’ ich auch, daß die Cabkutscher nie so fuhren, denn dieser gradlinige Weg führte durch eins der schlechtberufensten und zugleich engsten und winklichsten Quartiere von London, durch Clerkenwell. Wie oft, wenn wir, auf unserm täglichen Wege zur Post, Holborn Hill passierten, hatten wir nach diesem übelberufenen Stadtteile scheu hinübergeblickt, denn man konnte nicht leicht etwas Trostloseres und Beängstigenderes sehn, als dies Clerkenwell. Daß es aus halbverfallenen elenden Häusern bestand, hatte nicht viel zu sagen, solche heruntergekommenen Quartiere gab und giebt es in London überall, aber das war das Schlimme, daß man vor etwa zwanzig oder dreißig Jahren den Versuch gemacht hatte, das Alte hier niederzureißen und Neues an seine Stelle zu setzen, in welchem Versuche man, weil die Baugelder ausgingen, stecken geblieben war. Als Folge davon ergab sich nun ein furchtbares <hi rendition="#aq">Mixtum compositum</hi> von Spelunken und unfertigen Neubauten, von welch letztren man nichts sah als zehn oder fünfzehn Fuß hohe Mauern mit halbfertigen Fensteröffnungen. Denn auch diese schnitten wieder in der Mitte ab. Ich wußte, daß dieser Stadtteil meiner Frau jedesmal ein ganz besondres Grauen einflößte, was aber, weit darüber hinaus, die Lage ganz besonders heikel<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [86/0095]
Grays Inn Lane hin, auf unsere Wohnung in Camden-Town zufahren mußten. Aber dies links Einbiegen bei Holborn Hill wurde versäumt und unser Cabkutscher zog es statt dessen vor, in gerader Linie zu bleiben. Nun wußt’ ich sehr wohl – denn ich kannte London besser, als ich Berlin kenne –, daß man auf diesem Wege gerade so gut nach Norden kam wie durch Grays Inn Lane, aber eben so gut wußt’ ich auch, daß die Cabkutscher nie so fuhren, denn dieser gradlinige Weg führte durch eins der schlechtberufensten und zugleich engsten und winklichsten Quartiere von London, durch Clerkenwell. Wie oft, wenn wir, auf unserm täglichen Wege zur Post, Holborn Hill passierten, hatten wir nach diesem übelberufenen Stadtteile scheu hinübergeblickt, denn man konnte nicht leicht etwas Trostloseres und Beängstigenderes sehn, als dies Clerkenwell. Daß es aus halbverfallenen elenden Häusern bestand, hatte nicht viel zu sagen, solche heruntergekommenen Quartiere gab und giebt es in London überall, aber das war das Schlimme, daß man vor etwa zwanzig oder dreißig Jahren den Versuch gemacht hatte, das Alte hier niederzureißen und Neues an seine Stelle zu setzen, in welchem Versuche man, weil die Baugelder ausgingen, stecken geblieben war. Als Folge davon ergab sich nun ein furchtbares Mixtum compositum von Spelunken und unfertigen Neubauten, von welch letztren man nichts sah als zehn oder fünfzehn Fuß hohe Mauern mit halbfertigen Fensteröffnungen. Denn auch diese schnitten wieder in der Mitte ab. Ich wußte, daß dieser Stadtteil meiner Frau jedesmal ein ganz besondres Grauen einflößte, was aber, weit darüber hinaus, die Lage ganz besonders heikel
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(2018-07-25T10:02:20Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Rahel Gajaneh Hartz: Bearbeitung der digitalen Edition.
(2018-07-25T10:02:20Z)
Weitere Informationen:Theodor Fontane: Von Zwanzig bis Dreißig. Autobiographisches. Hrsg. von der Theodor Fontane-Arbeitsstelle, Universität Göttingen. Bandbearbeiter: Wolfgang Rasch. Berlin 2014 [= Große Brandenburger Ausgabe, Das autobiographische Werk, Bd. 3]: Bereitstellung der Texttranskription (mit freundlicher Genehmigung des Aufbau-Verlags Berlin). Verfahren der Texterfassung: manuell (einfach erfasst).
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