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Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778.

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in den Jahren 1772 bis 1775.
todt zu schießen wünschten, gerade als ob sie Recht hätten über das Leben eines1773.
Novem-
ber.

Volks zu gebieten, dessen Handlungen gar nicht vor ihren Richterstuhl ge-
hörten! Einigen war der Anblick so gut als ein Brechpulver. Die übrigen be-
gnügten sich, diese Barbarey eine Entehrung der menschlichen Natur zu nennen,
und es zu beklagen, daß das edelste der Geschöpfe dem Thiere so ähnlich werden
könne! Nur allein Maheine, der junge Mensch von den Societäts-Inseln, zeigte
bey diesem Vorfall mehr wahre Empfindsamkeit als die andern alle. Geboren
und erzogen in einem Lande, dessen Einwohner sich bereits der Barbarey entrissen
haben und in gesellschaftliche Verbindungen getreten sind, erregte diese Scene
den heftigsten Abscheu bey ihm. Er wandte die Augen von dem gräßlichen
Schauspiel weg, und floh nach der Cajütte, um seinem Herzen Luft zu machen.
Wir fanden ihn daselbst in Thränen, die von seiner inneren Rührung das un-
verfälschteste Zeugniß ablegten. Auf unser Befragen, erfuhren wir, daß er
über die unglückseligen Eltern des armen Schlacht-Opfers weine! Diese Wen-
dung seiner Betrachtungen machte seinem Herzen Ehre; dann man sahe dar-
aus, daß er für die zärtlichsten Pflichten der Gesellschaft ein lebhaftes inniges
Gefühl haben und gegen seine Nebenmenschen überaus gut gesinnt seyn mußte.
Er war so schmerzlich gerührt, daß einige Stunden vergiengen, ehe er sich
wieder beruhigen konnte, und auch in der Folge sprach er von diesem Vorfall
nie ohne heftige Gemüthsbewegung. Philosophen, die den Menschen nur von
ihrer Studierstube her kennen, haben dreist weg behauptet, daß es, aller älteren
und neueren Nachrichten ohnerachtet, nie Menschenfresser gegeben habe: Selbst
unter unsern Reisegefährten waren dergleichen Zweifler vorhanden, die dem ein-
stimmigen Zeugniß so vieler Völker bisher noch immer nicht Glauben beymessen
wollten. Capitain Cook hatte indessen schon auf seiner vorigen Reise aus guten
Gründen gemuthmaaßt, daß die Neu-Seeländer Menschenfresser seyn müßten;
und jetzt, da wir es offenbahr mit Augen gesehen haben, kann man wohl im
geringsten nicht mehr daran zweifeln. Ueber den Ursprung dieser Gewohnheit
sind die Gelehrten sehr verschiedener Meynung, wie unter andern aus des Herrn
Canonicus Pauw zu Xanten recherches philosophiques sur les Ame-
ricains
ersehen werden kann. Er selbst scheint anzunehmen, daß die Men-
schen ursprünglich durch Mangel und dringende Noth darauf verfallen sind,

C c c 2

in den Jahren 1772 bis 1775.
todt zu ſchießen wuͤnſchten, gerade als ob ſie Recht haͤtten uͤber das Leben eines1773.
Novem-
ber.

Volks zu gebieten, deſſen Handlungen gar nicht vor ihren Richterſtuhl ge-
hoͤrten! Einigen war der Anblick ſo gut als ein Brechpulver. Die uͤbrigen be-
gnuͤgten ſich, dieſe Barbarey eine Entehrung der menſchlichen Natur zu nennen,
und es zu beklagen, daß das edelſte der Geſchoͤpfe dem Thiere ſo aͤhnlich werden
koͤnne! Nur allein Maheine, der junge Menſch von den Societaͤts-Inſeln, zeigte
bey dieſem Vorfall mehr wahre Empfindſamkeit als die andern alle. Geboren
und erzogen in einem Lande, deſſen Einwohner ſich bereits der Barbarey entriſſen
haben und in geſellſchaftliche Verbindungen getreten ſind, erregte dieſe Scene
den heftigſten Abſcheu bey ihm. Er wandte die Augen von dem graͤßlichen
Schauſpiel weg, und floh nach der Cajuͤtte, um ſeinem Herzen Luft zu machen.
Wir fanden ihn daſelbſt in Thraͤnen, die von ſeiner inneren Ruͤhrung das un-
verfaͤlſchteſte Zeugniß ablegten. Auf unſer Befragen, erfuhren wir, daß er
uͤber die ungluͤckſeligen Eltern des armen Schlacht-Opfers weine! Dieſe Wen-
dung ſeiner Betrachtungen machte ſeinem Herzen Ehre; dann man ſahe dar-
aus, daß er fuͤr die zaͤrtlichſten Pflichten der Geſellſchaft ein lebhaftes inniges
Gefuͤhl haben und gegen ſeine Nebenmenſchen uͤberaus gut geſinnt ſeyn mußte.
Er war ſo ſchmerzlich geruͤhrt, daß einige Stunden vergiengen, ehe er ſich
wieder beruhigen konnte, und auch in der Folge ſprach er von dieſem Vorfall
nie ohne heftige Gemuͤthsbewegung. Philoſophen, die den Menſchen nur von
ihrer Studierſtube her kennen, haben dreiſt weg behauptet, daß es, aller aͤlteren
und neueren Nachrichten ohnerachtet, nie Menſchenfreſſer gegeben habe: Selbſt
unter unſern Reiſegefaͤhrten waren dergleichen Zweifler vorhanden, die dem ein-
ſtimmigen Zeugniß ſo vieler Voͤlker bisher noch immer nicht Glauben beymeſſen
wollten. Capitain Cook hatte indeſſen ſchon auf ſeiner vorigen Reiſe aus guten
Gruͤnden gemuthmaaßt, daß die Neu-Seelaͤnder Menſchenfreſſer ſeyn muͤßten;
und jetzt, da wir es offenbahr mit Augen geſehen haben, kann man wohl im
geringſten nicht mehr daran zweifeln. Ueber den Urſprung dieſer Gewohnheit
ſind die Gelehrten ſehr verſchiedener Meynung, wie unter andern aus des Herrn
Canonicus Pauw zu Xanten recherches philoſophiques ſur les Ame-
ricains
erſehen werden kann. Er ſelbſt ſcheint anzunehmen, daß die Men-
ſchen urſpruͤnglich durch Mangel und dringende Noth darauf verfallen ſind,

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[387/0446] in den Jahren 1772 bis 1775. todt zu ſchießen wuͤnſchten, gerade als ob ſie Recht haͤtten uͤber das Leben eines Volks zu gebieten, deſſen Handlungen gar nicht vor ihren Richterſtuhl ge- hoͤrten! Einigen war der Anblick ſo gut als ein Brechpulver. Die uͤbrigen be- gnuͤgten ſich, dieſe Barbarey eine Entehrung der menſchlichen Natur zu nennen, und es zu beklagen, daß das edelſte der Geſchoͤpfe dem Thiere ſo aͤhnlich werden koͤnne! Nur allein Maheine, der junge Menſch von den Societaͤts-Inſeln, zeigte bey dieſem Vorfall mehr wahre Empfindſamkeit als die andern alle. Geboren und erzogen in einem Lande, deſſen Einwohner ſich bereits der Barbarey entriſſen haben und in geſellſchaftliche Verbindungen getreten ſind, erregte dieſe Scene den heftigſten Abſcheu bey ihm. Er wandte die Augen von dem graͤßlichen Schauſpiel weg, und floh nach der Cajuͤtte, um ſeinem Herzen Luft zu machen. Wir fanden ihn daſelbſt in Thraͤnen, die von ſeiner inneren Ruͤhrung das un- verfaͤlſchteſte Zeugniß ablegten. Auf unſer Befragen, erfuhren wir, daß er uͤber die ungluͤckſeligen Eltern des armen Schlacht-Opfers weine! Dieſe Wen- dung ſeiner Betrachtungen machte ſeinem Herzen Ehre; dann man ſahe dar- aus, daß er fuͤr die zaͤrtlichſten Pflichten der Geſellſchaft ein lebhaftes inniges Gefuͤhl haben und gegen ſeine Nebenmenſchen uͤberaus gut geſinnt ſeyn mußte. Er war ſo ſchmerzlich geruͤhrt, daß einige Stunden vergiengen, ehe er ſich wieder beruhigen konnte, und auch in der Folge ſprach er von dieſem Vorfall nie ohne heftige Gemuͤthsbewegung. Philoſophen, die den Menſchen nur von ihrer Studierſtube her kennen, haben dreiſt weg behauptet, daß es, aller aͤlteren und neueren Nachrichten ohnerachtet, nie Menſchenfreſſer gegeben habe: Selbſt unter unſern Reiſegefaͤhrten waren dergleichen Zweifler vorhanden, die dem ein- ſtimmigen Zeugniß ſo vieler Voͤlker bisher noch immer nicht Glauben beymeſſen wollten. Capitain Cook hatte indeſſen ſchon auf ſeiner vorigen Reiſe aus guten Gruͤnden gemuthmaaßt, daß die Neu-Seelaͤnder Menſchenfreſſer ſeyn muͤßten; und jetzt, da wir es offenbahr mit Augen geſehen haben, kann man wohl im geringſten nicht mehr daran zweifeln. Ueber den Urſprung dieſer Gewohnheit ſind die Gelehrten ſehr verſchiedener Meynung, wie unter andern aus des Herrn Canonicus Pauw zu Xanten recherches philoſophiques ſur les Ame- ricains erſehen werden kann. Er ſelbſt ſcheint anzunehmen, daß die Men- ſchen urſpruͤnglich durch Mangel und dringende Noth darauf verfallen ſind, 1773. Novem- ber. C c c 2

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Zitationshilfe: Forster, Georg: Johann Reinhold Forster's [...] Reise um die Welt. Bd. 1. Berlin, 1778, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/forster_reise01_1778/446>, abgerufen am 23.11.2024.