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Franzos, Karl Emil: Weibliche Studenten. In: Die Gegenwart 23 (1881), S. 358–361; 24 (1881) S. 380–382; 25 (1881), S. 393–395.

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Nr. 23. Die Gegenwart.
zigen, kleinen Kammer. Jm Bette lag ein junger, recht wüst-
aussehender Mann mit brennrothen Haaren. Das ist der rothe
Major! - dachte ich und übergab ihm den Brief.

Er las, blickte mich ziemlich argwöhnisch an und fragte
dann: "Sind Sie wirklich der Bürger, welchen der Brief em-
pfiehlt?"

"Ja!" betheuerte ich.

"Haben Sie irgend eine Legitimation?"

Nun hatte ich allerdings ein solches Schriftstück bei mir,
welches aber jedenfalls bewies, daß ich weniger ein "Bürger"
in seinem Sinne, als vielmehr ein loyaler Staatsbürger sei.
Es war dies nämlich eine Kaiserl. Königliche Paßkarte, welche ich
allerdings nicht so sehr aus Loyalität, als der recommandirten
Briefe wegen mitgenommen hatte. Fast zögernd reichte ich dem
Freiheitsmanne das servile Document, welches ihn jedoch gleich-
wohl zu beruhigen schien.

"Gut," sagte er. "Jch kleide mich an und führe sie hin!"

"Wohin?" erlaubte ich mir zu fragen.

"Nun - zum rothen Major!"

"Sind nicht Sie selbst dieser Herr?"

"Nein!" lachte er und fand meinen Jrrthum sehr lustig,
denn er lachte noch lange fort, auch als wir schon in einer
Droschke saßen.

Wir durchfuhren nahezu die ganze Stadt und hielten end-
lich vor einem "Hotel garni" des englischen Viertels. Als mich
mein Führer hier vor den richtigen "rothen Major" stellte, fand
ich seine Heiterkeit begreiflich, denn vor mir stand eine junge,
runde, tiefbrünnette Dame. Wir waren bald im besten Plaudern,
und sie belehrte mich zunächst über die Bedeutung ihres Spitz-
namens. Sie war sehr radical, daher das "Roth", und hatte sich
Verdienste um die revolutionäre Propaganda in der russischen
Armee erworben, daher der "Major". Jch hatte Muße, sie zu
betrachten; schon ihr Aeußeres bewies, daß sie jenem extremsten
Flügel der Nihilisten angehöre, welcher sogar den Gebrauch von
Kamm und Seife als reactionär verwirft, und ihr Kragen, ihre
Manschetten waren entschieden schon lange vor Beginn der nihi-
listischen Bewegung zum letzten Male gewaschen worden. Aber
wie trotzdem der hübsche Schnitt des energischen Gesichtes auf-
fallend blieb, so leuchtete auch durch den Phrasendunst ein scharfer,
entschlossener Geist hervor. Das war in der That ein Offizier
der Armee, viel verfolgt, wie schon die Vorsicht bei meiner Ein-
führung bewies, sie wechselte ihre Wohnung nahezu täglich.
"Uebrigens bleibe ich nicht lange mehr hier," sagte sie, "ich bin
Student in Bern."

"So? An welcher Facultät?"

"Ja, Teufel!" erwiederte sie ganz nachdenklich, "was studiere
ich denn eigentlich? Jch glaube, im letzten Semester war ich
wieder an der medicinischen Facultät inscribirt!"

Das war so drollig vorgebracht, daß ich lachen mußte.

"Was wollen Sie?" sagte sie, "wir sind ja genöthigt, uns
inscribiren zu lassen! Das schützt uns zwar nicht vor den Agenten
unserer Regierung, aber doch vor der Schweizer Polizei!"

Das Gespräch nahm wieder eine allgemeine Wendung und
gewährte mir in der That viele Aufschlüsse über die Principien
der Partei. Um mich aber nicht blos geistig zu bewirthen, fegte
der "rothe Major" die Tabaksasche und die Cigarettenstümpfchen
vom Tische, und stellte aus einem Wandschrank eine Flasche
Schnaps, Wurst, Brod und Speck vor mich hin. Gläser gab
es nicht, wohl aber ein Besteck, welches aus einem einzigen Feder-
messer bestand. Jch lehnte dankend ab. "Ah!" sagte sie, "Sie
sind verwöhnt, Sie essen wahrscheinlich nicht ohne Tischtuch" -
griff in die Tasche, zog ihr Sacktuch hervor und breitete es über
den Tisch. Merkwürdigerweise kam mir der Jmbiß nun auch
noch nicht viel appetitlicher vor - und ich empfahl mich.

Als ich die Struvestraße entlang meinem Hotel zuschritt,
hielt vor einem Hause eine Droschke an, der eine jugendliche
Dame entstieg, die mir bekannt vorkam. Jn der That war es
eine liebe Freundin aus der Jugendzeit, Fräulein Dr. med. Rosa
Welt, die ich so unvermuthet wiedertraf.

Sie ist meine Landsmännin, ich habe sie vor etwa fünfzehn[Spaltenumbruch] Jahren in Czernowitz, selbst noch Gymnasiast, in den Anfangsgründen
des Lateinischen und Griechischen unterrichtet, und schon damals zeich-
nete sie sich durch seltene Gaben des Geistes aus, durch eisernen Fleiß
und ein ganz ungewöhnliches Pflichtgefühl. Kaum minder bedeutend
erwiesen sich die Gaben ihrer jüngeren Schwester Eleonora, die
zeitweise an dem Unterrichte Theil nahm. Die beiden Schwestern
sind die Töchter eines Herrn Sinai Welt, der früher Frucht-
händler in Czernowitz war und jetzt als Börsenagent in Wien
lebt. Jch habe vor einiger Zeit Eigenart und Bildungsgang
dieser beiden merkwürdigen, hochbegabten Mädchen in einer öst-
reichischen Zeitung geschildert und muß mich daher schon aus
diesem Grunde hier sehr kurz fassen. Herr Sinai Welt, von seinen
orthodoxen Glaubensgenossen am Studium gehindert, hatte es sich
schon in seiner Jugendzeit feierlich gelobt, daß jeder seiner Söhne
ein Gelehrter werden müsse, und als ihm das Geschick nur Töchter
bescheerte, machte ihn dies nicht irre an seinem Entschluß. Darum
ließ er den Mädchen genau denselben Unterricht angedeihen, als
wären sie als Knaben geboren und lenkte ihren Ehrgeiz früh
auf Ziele, welche damals fast unerreichbar lagen: das Doctorat
der Medicin, der Philosophie. Wenn die ältere dieses Ziel schon
erreicht hat, die andere dicht daran ist, verdanken sie dies neben
ihrer Begabung nur ihrer zähen Ausdauer; denn beide haben
hart mit äußerem Ungemach kämpfen müssen.

Seit jenen Czernowitzer Schülertagen war ich meiner ebenso
hübschen als talentvollen Schülerin Rosa selten und flüchtig be-
gegnet. So 1873, als sie eben die Maturitätsprüfung mit glänzen-
dem Erfolge absolvirt hatte. Dann 1877, als sie an der Wiener
Universität einige Kliniken besuchte und sich für die Ablegung der
medicinischon Rigorosen an der Berner Hochschule vorbereitete.

Da jene Droschke ihr Doctorwagen war und sie eben ihre
Rundfahrt bei ihren Patientinnen, Frauen und Kindern, absol-
virt hatte, so lud sie mich ein, sie heimzubegleiten; sie wohnte
im Kreise einer liebenswürdigen, aus Wien stammenden Familie.
Da erzählte sie mir, daß sie ihre Rigorosen mit bestem Erfolge
abgelegt, eine Dissertation über "Elephantiasis arabum" ge-
schrieben, nun in Dresden als Assistentin an einem Frauen-
hospital wirke und zugleich ein wenig selbstständige Praxis übe.
Dann entwickelte sie mir ihre Hoffnungen für die Zukunft, die
sich seither verwirklicht haben: die Errichtung einer selbstständigen
Klinik in New-York im Vereine mit einer älteren Collegin.

Es ist immer eine große und reine Freude, einem ernsthaft
Strebenden sein Ziel erreichen zu sehen, aber was mich an diesem
klugen, hübschen, krausköpfigen Doctor im braunen Kleide am
meisten erfreute, war das schlichtbürgerlich, bescheidene Benehmen.
Den Eindruck echterer Weiblichkeit kann auch das behütetste Fräu-
lein nicht machen, als dieses Mädchen, welches in der Fremde
einsam und allein tapfer mit Armuth und Vorurtheil gekämpft
und endlich gesiegt hatte. Ja! sie hatte Leichen secirt, hatte
denselben Vorlesungen und Demonstrationen mit ihren männ-
lichen Collegen beigewohnt und - rauchte nicht einmal die kleinste
Cigarette! ...

Ziehen wir das Resultat aus den Erlebnissen dieses einen
Vormittags, stellen wir diese beiden Studentinnen derselben
Facultät, derselben Hochschule noch einmal in Gedanken neben
einander hin, und wir sind uns über die größte Schwierigkeit
klar geworden, welche die Frage der Berechtigung oder Nichtbe-
rechtigung der Frauen zu akademischen Studien bietet: über die
Unmöglichkeit nämlich, ein auch nur annähernd allgemein gül-
tiges Urtheil auszusprechen. Denn es gibt momentan keine andere
sociale Erscheinung, in welcher sich Verstand und Thorheit,
Tugend und Laster, Schändliches und Heiliges gleich verwirrend
mischen, und über welche daher naturgemäß auch so verschiedene
Urtheile gefällt werden - im privaten Gedankenaustausch, in
der Literatur und in der Gesetzgebung.

Man leite die Discussion hierüber in jeder beliebigen ge-
bildeten Gesellschaft ein und man wird bemerken, daß sich höchst
wahrscheinlich nur entweder entschiedene Gegner oder begeisterte
Freunde des "weiblichen Studenten" zum Worte melden, welche
sich sogar in dem Grade der Negation oder Affirmation nur
wenig von einander unterscheiden. Diese Zuversicht kommt uns[Spaltenumbruch]

Nr. 23. Die Gegenwart.
zigen, kleinen Kammer. Jm Bette lag ein junger, recht wüst-
aussehender Mann mit brennrothen Haaren. Das ist der rothe
Major! – dachte ich und übergab ihm den Brief.

Er las, blickte mich ziemlich argwöhnisch an und fragte
dann: „Sind Sie wirklich der Bürger, welchen der Brief em-
pfiehlt?“

„Ja!“ betheuerte ich.

„Haben Sie irgend eine Legitimation?“

Nun hatte ich allerdings ein solches Schriftstück bei mir,
welches aber jedenfalls bewies, daß ich weniger ein „Bürger“
in seinem Sinne, als vielmehr ein loyaler Staatsbürger sei.
Es war dies nämlich eine Kaiserl. Königliche Paßkarte, welche ich
allerdings nicht so sehr aus Loyalität, als der recommandirten
Briefe wegen mitgenommen hatte. Fast zögernd reichte ich dem
Freiheitsmanne das servile Document, welches ihn jedoch gleich-
wohl zu beruhigen schien.

„Gut,“ sagte er. „Jch kleide mich an und führe sie hin!“

„Wohin?“ erlaubte ich mir zu fragen.

„Nun – zum rothen Major!“

„Sind nicht Sie selbst dieser Herr?“

„Nein!“ lachte er und fand meinen Jrrthum sehr lustig,
denn er lachte noch lange fort, auch als wir schon in einer
Droschke saßen.

Wir durchfuhren nahezu die ganze Stadt und hielten end-
lich vor einem „Hôtel garni“ des englischen Viertels. Als mich
mein Führer hier vor den richtigen „rothen Major“ stellte, fand
ich seine Heiterkeit begreiflich, denn vor mir stand eine junge,
runde, tiefbrünnette Dame. Wir waren bald im besten Plaudern,
und sie belehrte mich zunächst über die Bedeutung ihres Spitz-
namens. Sie war sehr radical, daher das „Roth“, und hatte sich
Verdienste um die revolutionäre Propaganda in der russischen
Armee erworben, daher der „Major“. Jch hatte Muße, sie zu
betrachten; schon ihr Aeußeres bewies, daß sie jenem extremsten
Flügel der Nihilisten angehöre, welcher sogar den Gebrauch von
Kamm und Seife als reactionär verwirft, und ihr Kragen, ihre
Manschetten waren entschieden schon lange vor Beginn der nihi-
listischen Bewegung zum letzten Male gewaschen worden. Aber
wie trotzdem der hübsche Schnitt des energischen Gesichtes auf-
fallend blieb, so leuchtete auch durch den Phrasendunst ein scharfer,
entschlossener Geist hervor. Das war in der That ein Offizier
der Armee, viel verfolgt, wie schon die Vorsicht bei meiner Ein-
führung bewies, sie wechselte ihre Wohnung nahezu täglich.
„Uebrigens bleibe ich nicht lange mehr hier,“ sagte sie, „ich bin
Student in Bern.“

„So? An welcher Facultät?“

„Ja, Teufel!“ erwiederte sie ganz nachdenklich, „was studiere
ich denn eigentlich? Jch glaube, im letzten Semester war ich
wieder an der medicinischen Facultät inscribirt!“

Das war so drollig vorgebracht, daß ich lachen mußte.

„Was wollen Sie?“ sagte sie, „wir sind ja genöthigt, uns
inscribiren zu lassen! Das schützt uns zwar nicht vor den Agenten
unserer Regierung, aber doch vor der Schweizer Polizei!“

Das Gespräch nahm wieder eine allgemeine Wendung und
gewährte mir in der That viele Aufschlüsse über die Principien
der Partei. Um mich aber nicht blos geistig zu bewirthen, fegte
der „rothe Major“ die Tabaksasche und die Cigarettenstümpfchen
vom Tische, und stellte aus einem Wandschrank eine Flasche
Schnaps, Wurst, Brod und Speck vor mich hin. Gläser gab
es nicht, wohl aber ein Besteck, welches aus einem einzigen Feder-
messer bestand. Jch lehnte dankend ab. „Ah!“ sagte sie, „Sie
sind verwöhnt, Sie essen wahrscheinlich nicht ohne Tischtuch“ –
griff in die Tasche, zog ihr Sacktuch hervor und breitete es über
den Tisch. Merkwürdigerweise kam mir der Jmbiß nun auch
noch nicht viel appetitlicher vor – und ich empfahl mich.

Als ich die Struvestraße entlang meinem Hotel zuschritt,
hielt vor einem Hause eine Droschke an, der eine jugendliche
Dame entstieg, die mir bekannt vorkam. Jn der That war es
eine liebe Freundin aus der Jugendzeit, Fräulein Dr. med. Rosa
Welt, die ich so unvermuthet wiedertraf.

Sie ist meine Landsmännin, ich habe sie vor etwa fünfzehn[Spaltenumbruch] Jahren in Czernowitz, selbst noch Gymnasiast, in den Anfangsgründen
des Lateinischen und Griechischen unterrichtet, und schon damals zeich-
nete sie sich durch seltene Gaben des Geistes aus, durch eisernen Fleiß
und ein ganz ungewöhnliches Pflichtgefühl. Kaum minder bedeutend
erwiesen sich die Gaben ihrer jüngeren Schwester Eleonora, die
zeitweise an dem Unterrichte Theil nahm. Die beiden Schwestern
sind die Töchter eines Herrn Sinai Welt, der früher Frucht-
händler in Czernowitz war und jetzt als Börsenagent in Wien
lebt. Jch habe vor einiger Zeit Eigenart und Bildungsgang
dieser beiden merkwürdigen, hochbegabten Mädchen in einer öst-
reichischen Zeitung geschildert und muß mich daher schon aus
diesem Grunde hier sehr kurz fassen. Herr Sinai Welt, von seinen
orthodoxen Glaubensgenossen am Studium gehindert, hatte es sich
schon in seiner Jugendzeit feierlich gelobt, daß jeder seiner Söhne
ein Gelehrter werden müsse, und als ihm das Geschick nur Töchter
bescheerte, machte ihn dies nicht irre an seinem Entschluß. Darum
ließ er den Mädchen genau denselben Unterricht angedeihen, als
wären sie als Knaben geboren und lenkte ihren Ehrgeiz früh
auf Ziele, welche damals fast unerreichbar lagen: das Doctorat
der Medicin, der Philosophie. Wenn die ältere dieses Ziel schon
erreicht hat, die andere dicht daran ist, verdanken sie dies neben
ihrer Begabung nur ihrer zähen Ausdauer; denn beide haben
hart mit äußerem Ungemach kämpfen müssen.

Seit jenen Czernowitzer Schülertagen war ich meiner ebenso
hübschen als talentvollen Schülerin Rosa selten und flüchtig be-
gegnet. So 1873, als sie eben die Maturitätsprüfung mit glänzen-
dem Erfolge absolvirt hatte. Dann 1877, als sie an der Wiener
Universität einige Kliniken besuchte und sich für die Ablegung der
medicinischon Rigorosen an der Berner Hochschule vorbereitete.

Da jene Droschke ihr Doctorwagen war und sie eben ihre
Rundfahrt bei ihren Patientinnen, Frauen und Kindern, absol-
virt hatte, so lud sie mich ein, sie heimzubegleiten; sie wohnte
im Kreise einer liebenswürdigen, aus Wien stammenden Familie.
Da erzählte sie mir, daß sie ihre Rigorosen mit bestem Erfolge
abgelegt, eine Dissertation über „Elephantiasis arabum“ ge-
schrieben, nun in Dresden als Assistentin an einem Frauen-
hospital wirke und zugleich ein wenig selbstständige Praxis übe.
Dann entwickelte sie mir ihre Hoffnungen für die Zukunft, die
sich seither verwirklicht haben: die Errichtung einer selbstständigen
Klinik in New-York im Vereine mit einer älteren Collegin.

Es ist immer eine große und reine Freude, einem ernsthaft
Strebenden sein Ziel erreichen zu sehen, aber was mich an diesem
klugen, hübschen, krausköpfigen Doctor im braunen Kleide am
meisten erfreute, war das schlichtbürgerlich, bescheidene Benehmen.
Den Eindruck echterer Weiblichkeit kann auch das behütetste Fräu-
lein nicht machen, als dieses Mädchen, welches in der Fremde
einsam und allein tapfer mit Armuth und Vorurtheil gekämpft
und endlich gesiegt hatte. Ja! sie hatte Leichen secirt, hatte
denselben Vorlesungen und Demonstrationen mit ihren männ-
lichen Collegen beigewohnt und – rauchte nicht einmal die kleinste
Cigarette! …

Ziehen wir das Resultat aus den Erlebnissen dieses einen
Vormittags, stellen wir diese beiden Studentinnen derselben
Facultät, derselben Hochschule noch einmal in Gedanken neben
einander hin, und wir sind uns über die größte Schwierigkeit
klar geworden, welche die Frage der Berechtigung oder Nichtbe-
rechtigung der Frauen zu akademischen Studien bietet: über die
Unmöglichkeit nämlich, ein auch nur annähernd allgemein gül-
tiges Urtheil auszusprechen. Denn es gibt momentan keine andere
sociale Erscheinung, in welcher sich Verstand und Thorheit,
Tugend und Laster, Schändliches und Heiliges gleich verwirrend
mischen, und über welche daher naturgemäß auch so verschiedene
Urtheile gefällt werden – im privaten Gedankenaustausch, in
der Literatur und in der Gesetzgebung.

Man leite die Discussion hierüber in jeder beliebigen ge-
bildeten Gesellschaft ein und man wird bemerken, daß sich höchst
wahrscheinlich nur entweder entschiedene Gegner oder begeisterte
Freunde des „weiblichen Studenten“ zum Worte melden, welche
sich sogar in dem Grade der Negation oder Affirmation nur
wenig von einander unterscheiden. Diese Zuversicht kommt uns[Spaltenumbruch]

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[359/0002] Nr. 23. Die Gegenwart. zigen, kleinen Kammer. Jm Bette lag ein junger, recht wüst- aussehender Mann mit brennrothen Haaren. Das ist der rothe Major! – dachte ich und übergab ihm den Brief. Er las, blickte mich ziemlich argwöhnisch an und fragte dann: „Sind Sie wirklich der Bürger, welchen der Brief em- pfiehlt?“ „Ja!“ betheuerte ich. „Haben Sie irgend eine Legitimation?“ Nun hatte ich allerdings ein solches Schriftstück bei mir, welches aber jedenfalls bewies, daß ich weniger ein „Bürger“ in seinem Sinne, als vielmehr ein loyaler Staatsbürger sei. Es war dies nämlich eine Kaiserl. Königliche Paßkarte, welche ich allerdings nicht so sehr aus Loyalität, als der recommandirten Briefe wegen mitgenommen hatte. Fast zögernd reichte ich dem Freiheitsmanne das servile Document, welches ihn jedoch gleich- wohl zu beruhigen schien. „Gut,“ sagte er. „Jch kleide mich an und führe sie hin!“ „Wohin?“ erlaubte ich mir zu fragen. „Nun – zum rothen Major!“ „Sind nicht Sie selbst dieser Herr?“ „Nein!“ lachte er und fand meinen Jrrthum sehr lustig, denn er lachte noch lange fort, auch als wir schon in einer Droschke saßen. Wir durchfuhren nahezu die ganze Stadt und hielten end- lich vor einem „Hôtel garni“ des englischen Viertels. Als mich mein Führer hier vor den richtigen „rothen Major“ stellte, fand ich seine Heiterkeit begreiflich, denn vor mir stand eine junge, runde, tiefbrünnette Dame. Wir waren bald im besten Plaudern, und sie belehrte mich zunächst über die Bedeutung ihres Spitz- namens. Sie war sehr radical, daher das „Roth“, und hatte sich Verdienste um die revolutionäre Propaganda in der russischen Armee erworben, daher der „Major“. Jch hatte Muße, sie zu betrachten; schon ihr Aeußeres bewies, daß sie jenem extremsten Flügel der Nihilisten angehöre, welcher sogar den Gebrauch von Kamm und Seife als reactionär verwirft, und ihr Kragen, ihre Manschetten waren entschieden schon lange vor Beginn der nihi- listischen Bewegung zum letzten Male gewaschen worden. Aber wie trotzdem der hübsche Schnitt des energischen Gesichtes auf- fallend blieb, so leuchtete auch durch den Phrasendunst ein scharfer, entschlossener Geist hervor. Das war in der That ein Offizier der Armee, viel verfolgt, wie schon die Vorsicht bei meiner Ein- führung bewies, sie wechselte ihre Wohnung nahezu täglich. „Uebrigens bleibe ich nicht lange mehr hier,“ sagte sie, „ich bin Student in Bern.“ „So? An welcher Facultät?“ „Ja, Teufel!“ erwiederte sie ganz nachdenklich, „was studiere ich denn eigentlich? Jch glaube, im letzten Semester war ich wieder an der medicinischen Facultät inscribirt!“ Das war so drollig vorgebracht, daß ich lachen mußte. „Was wollen Sie?“ sagte sie, „wir sind ja genöthigt, uns inscribiren zu lassen! Das schützt uns zwar nicht vor den Agenten unserer Regierung, aber doch vor der Schweizer Polizei!“ Das Gespräch nahm wieder eine allgemeine Wendung und gewährte mir in der That viele Aufschlüsse über die Principien der Partei. Um mich aber nicht blos geistig zu bewirthen, fegte der „rothe Major“ die Tabaksasche und die Cigarettenstümpfchen vom Tische, und stellte aus einem Wandschrank eine Flasche Schnaps, Wurst, Brod und Speck vor mich hin. Gläser gab es nicht, wohl aber ein Besteck, welches aus einem einzigen Feder- messer bestand. Jch lehnte dankend ab. „Ah!“ sagte sie, „Sie sind verwöhnt, Sie essen wahrscheinlich nicht ohne Tischtuch“ – griff in die Tasche, zog ihr Sacktuch hervor und breitete es über den Tisch. Merkwürdigerweise kam mir der Jmbiß nun auch noch nicht viel appetitlicher vor – und ich empfahl mich. Als ich die Struvestraße entlang meinem Hotel zuschritt, hielt vor einem Hause eine Droschke an, der eine jugendliche Dame entstieg, die mir bekannt vorkam. Jn der That war es eine liebe Freundin aus der Jugendzeit, Fräulein Dr. med. Rosa Welt, die ich so unvermuthet wiedertraf. Sie ist meine Landsmännin, ich habe sie vor etwa fünfzehn Jahren in Czernowitz, selbst noch Gymnasiast, in den Anfangsgründen des Lateinischen und Griechischen unterrichtet, und schon damals zeich- nete sie sich durch seltene Gaben des Geistes aus, durch eisernen Fleiß und ein ganz ungewöhnliches Pflichtgefühl. Kaum minder bedeutend erwiesen sich die Gaben ihrer jüngeren Schwester Eleonora, die zeitweise an dem Unterrichte Theil nahm. Die beiden Schwestern sind die Töchter eines Herrn Sinai Welt, der früher Frucht- händler in Czernowitz war und jetzt als Börsenagent in Wien lebt. Jch habe vor einiger Zeit Eigenart und Bildungsgang dieser beiden merkwürdigen, hochbegabten Mädchen in einer öst- reichischen Zeitung geschildert und muß mich daher schon aus diesem Grunde hier sehr kurz fassen. Herr Sinai Welt, von seinen orthodoxen Glaubensgenossen am Studium gehindert, hatte es sich schon in seiner Jugendzeit feierlich gelobt, daß jeder seiner Söhne ein Gelehrter werden müsse, und als ihm das Geschick nur Töchter bescheerte, machte ihn dies nicht irre an seinem Entschluß. Darum ließ er den Mädchen genau denselben Unterricht angedeihen, als wären sie als Knaben geboren und lenkte ihren Ehrgeiz früh auf Ziele, welche damals fast unerreichbar lagen: das Doctorat der Medicin, der Philosophie. Wenn die ältere dieses Ziel schon erreicht hat, die andere dicht daran ist, verdanken sie dies neben ihrer Begabung nur ihrer zähen Ausdauer; denn beide haben hart mit äußerem Ungemach kämpfen müssen. Seit jenen Czernowitzer Schülertagen war ich meiner ebenso hübschen als talentvollen Schülerin Rosa selten und flüchtig be- gegnet. So 1873, als sie eben die Maturitätsprüfung mit glänzen- dem Erfolge absolvirt hatte. Dann 1877, als sie an der Wiener Universität einige Kliniken besuchte und sich für die Ablegung der medicinischon Rigorosen an der Berner Hochschule vorbereitete. Da jene Droschke ihr Doctorwagen war und sie eben ihre Rundfahrt bei ihren Patientinnen, Frauen und Kindern, absol- virt hatte, so lud sie mich ein, sie heimzubegleiten; sie wohnte im Kreise einer liebenswürdigen, aus Wien stammenden Familie. Da erzählte sie mir, daß sie ihre Rigorosen mit bestem Erfolge abgelegt, eine Dissertation über „Elephantiasis arabum“ ge- schrieben, nun in Dresden als Assistentin an einem Frauen- hospital wirke und zugleich ein wenig selbstständige Praxis übe. Dann entwickelte sie mir ihre Hoffnungen für die Zukunft, die sich seither verwirklicht haben: die Errichtung einer selbstständigen Klinik in New-York im Vereine mit einer älteren Collegin. Es ist immer eine große und reine Freude, einem ernsthaft Strebenden sein Ziel erreichen zu sehen, aber was mich an diesem klugen, hübschen, krausköpfigen Doctor im braunen Kleide am meisten erfreute, war das schlichtbürgerlich, bescheidene Benehmen. Den Eindruck echterer Weiblichkeit kann auch das behütetste Fräu- lein nicht machen, als dieses Mädchen, welches in der Fremde einsam und allein tapfer mit Armuth und Vorurtheil gekämpft und endlich gesiegt hatte. Ja! sie hatte Leichen secirt, hatte denselben Vorlesungen und Demonstrationen mit ihren männ- lichen Collegen beigewohnt und – rauchte nicht einmal die kleinste Cigarette! … Ziehen wir das Resultat aus den Erlebnissen dieses einen Vormittags, stellen wir diese beiden Studentinnen derselben Facultät, derselben Hochschule noch einmal in Gedanken neben einander hin, und wir sind uns über die größte Schwierigkeit klar geworden, welche die Frage der Berechtigung oder Nichtbe- rechtigung der Frauen zu akademischen Studien bietet: über die Unmöglichkeit nämlich, ein auch nur annähernd allgemein gül- tiges Urtheil auszusprechen. Denn es gibt momentan keine andere sociale Erscheinung, in welcher sich Verstand und Thorheit, Tugend und Laster, Schändliches und Heiliges gleich verwirrend mischen, und über welche daher naturgemäß auch so verschiedene Urtheile gefällt werden – im privaten Gedankenaustausch, in der Literatur und in der Gesetzgebung. Man leite die Discussion hierüber in jeder beliebigen ge- bildeten Gesellschaft ein und man wird bemerken, daß sich höchst wahrscheinlich nur entweder entschiedene Gegner oder begeisterte Freunde des „weiblichen Studenten“ zum Worte melden, welche sich sogar in dem Grade der Negation oder Affirmation nur wenig von einander unterscheiden. Diese Zuversicht kommt uns

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Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Frauenstudium, betreut von Andreas Neumann und Anna Pfundt, FSU Jena und JLU Gießen: Bereitstellung der Texttranskription. (2022-09-22T15:58:55Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Anna Pfundt, Dennis Dietrich: Bearbeitung der digitalen Edition. (2022-09-22T15:58:55Z)

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Zitationshilfe: Franzos, Karl Emil: Weibliche Studenten. In: Die Gegenwart 23 (1881), S. 358–361; 24 (1881) S. 380–382; 25 (1881), S. 393–395, hier S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/franzos_studenten_1881/2>, abgerufen am 23.11.2024.