lichen Anstalten, man überließ mich der Natur, und dem guten Beispiele. Liebe, die zärtlichste aufopferndste Liebe umgab mich, und erzeugte in mir tiefes, reges Gefühl. Mein Geist bedurfte kei- nes Sporns, er entwickelte sich überaus früh- zeitig, und schaffte sich Nahrung. Jch lernte fast von selbst lesen, in einem Alter, wo andere Kinder kaum einige Worte im Zusammenhange aussprechen. Meine Mutter schaffte mir Pup- pen an und anderes Spielgeräth, ich wußte eben nichts damit anzufangen, und warf es bald bei Seite, traurig fragend "Was soll Vir- ginia nun machen?" Meine Mutter begriff diese Eigenheit nicht, und verlor oft die Geduld. Mein Vater erhielt, durch einen Zufall, ein altes Werk, welches meine kindische Aufmerksamkeit auf sich zog. Es war eine Weltgeschichte, durchweg in Kupfern bildlich dargestellt, der Text dane- ben in veraltetem, doch kräftigem Styl. Jch besah eifrig die wirklich schönen Kupfer, und verlangte ihre Erklärung; meine Mutter verstand sich we- nig darauf, und fertigte mich mit Auslegungen ab, welche sie für mein Alter passend glaubte, die mir aber nicht genügten. Jch wendete mich
lichen Anſtalten, man uͤberließ mich der Natur, und dem guten Beiſpiele. Liebe, die zaͤrtlichſte aufopferndſte Liebe umgab mich, und erzeugte in mir tiefes, reges Gefuͤhl. Mein Geiſt bedurfte kei- nes Sporns, er entwickelte ſich uͤberaus fruͤh- zeitig, und ſchaffte ſich Nahrung. Jch lernte faſt von ſelbſt leſen, in einem Alter, wo andere Kinder kaum einige Worte im Zuſammenhange ausſprechen. Meine Mutter ſchaffte mir Pup- pen an und anderes Spielgeraͤth, ich wußte eben nichts damit anzufangen, und warf es bald bei Seite, traurig fragend „Was ſoll Vir- ginia nun machen?‟ Meine Mutter begriff dieſe Eigenheit nicht, und verlor oft die Geduld. Mein Vater erhielt, durch einen Zufall, ein altes Werk, welches meine kindiſche Aufmerkſamkeit auf ſich zog. Es war eine Weltgeſchichte, durchweg in Kupfern bildlich dargeſtellt, der Text dane- ben in veraltetem, doch kraͤftigem Styl. Jch beſah eifrig die wirklich ſchoͤnen Kupfer, und verlangte ihre Erklaͤrung; meine Mutter verſtand ſich we- nig darauf, und fertigte mich mit Auslegungen ab, welche ſie fuͤr mein Alter paſſend glaubte, die mir aber nicht genuͤgten. Jch wendete mich
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lichen Anſtalten, man uͤberließ mich der Natur,
und dem guten Beiſpiele. Liebe, die zaͤrtlichſte
aufopferndſte Liebe umgab mich, und erzeugte in
mir tiefes, reges Gefuͤhl. Mein Geiſt bedurfte kei-
nes Sporns, er entwickelte ſich uͤberaus fruͤh-
zeitig, und ſchaffte ſich Nahrung. Jch lernte
faſt von ſelbſt leſen, in einem Alter, wo andere
Kinder kaum einige Worte im Zuſammenhange
ausſprechen. Meine Mutter ſchaffte mir Pup-
pen an und anderes Spielgeraͤth, ich wußte eben
nichts damit anzufangen, und warf es bald
bei Seite, traurig fragend „Was ſoll Vir-
ginia nun machen?‟ Meine Mutter begriff
dieſe Eigenheit nicht, und verlor oft die Geduld.
Mein Vater erhielt, durch einen Zufall, ein altes
Werk, welches meine kindiſche Aufmerkſamkeit auf
ſich zog. Es war eine Weltgeſchichte, durchweg
in Kupfern bildlich dargeſtellt, der Text dane-
ben in veraltetem, doch kraͤftigem Styl. Jch beſah
eifrig die wirklich ſchoͤnen Kupfer, und verlangte
ihre Erklaͤrung; meine Mutter verſtand ſich we-
nig darauf, und fertigte mich mit Auslegungen
ab, welche ſie fuͤr mein Alter paſſend glaubte,
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 54. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/62>, abgerufen am 16.02.2025.
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