Kindheit an, hatte ich mich gewöhnt, alles nach den Mustern der Alten zu beurtheilen, und so mußten meine Ansichten ganz verschieden seyn von den Ansichten derer, welche von einem andern Standpunkt auf die Dinge sahen. Mein Vater schien in demselben Falle gewesen zu seyn. Als des gutmüthigen Ludwig Haupt unter der Guil- lotine fiel, sah ich ihn tief betrübt. "Es ist trau- rig," sagte er, "daß es bis dahin kommen mußte!" O hätte der edle König sich doch gleich anfangs losmachen können von den anerzogenen Be- griffen, sich mit Aufrichtigkeit der Sache des Volks angeschlossen -- es wäre um vieles an- ders und besser geworden. Aber es war fast in seiner Lage unmöglich, der Einfluß seiner Umgebungen war zu mächtig, die Ränke der Ausgewanderten, und ihrer Verbündeten wa- ren zu eingreifend, es konnte fast nicht anders enden. Er fiel als ein großes Opfer der Frei- heit, ein reines schuldloses Opfer! Möge es die unterirdischen Götter versöhnen! Die Nachwelt nennt ihn mit Recht einen Heiligen.
Die Schreckenszeit erfüllte meinen Va- ter mit Grausen. Sie war aber durch die
Kindheit an, hatte ich mich gewoͤhnt, alles nach den Muſtern der Alten zu beurtheilen, und ſo mußten meine Anſichten ganz verſchieden ſeyn von den Anſichten derer, welche von einem andern Standpunkt auf die Dinge ſahen. Mein Vater ſchien in demſelben Falle geweſen zu ſeyn. Als des gutmuͤthigen Ludwig Haupt unter der Guil- lotine fiel, ſah ich ihn tief betruͤbt. „Es iſt trau- rig,‟ ſagte er, „daß es bis dahin kommen mußte!‟ O haͤtte der edle Koͤnig ſich doch gleich anfangs losmachen koͤnnen von den anerzogenen Be- griffen, ſich mit Aufrichtigkeit der Sache des Volks angeſchloſſen — es waͤre um vieles an- ders und beſſer geworden. Aber es war faſt in ſeiner Lage unmoͤglich, der Einfluß ſeiner Umgebungen war zu maͤchtig, die Raͤnke der Ausgewanderten, und ihrer Verbuͤndeten wa- ren zu eingreifend, es konnte faſt nicht anders enden. Er fiel als ein großes Opfer der Frei- heit, ein reines ſchuldloſes Opfer! Moͤge es die unterirdiſchen Goͤtter verſoͤhnen! Die Nachwelt nennt ihn mit Recht einen Heiligen.
Die Schreckenszeit erfuͤllte meinen Va- ter mit Grauſen. Sie war aber durch die
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Kindheit an, hatte ich mich gewoͤhnt, alles nach
den Muſtern der Alten zu beurtheilen, und ſo
mußten meine Anſichten ganz verſchieden ſeyn
von den Anſichten derer, welche von einem andern
Standpunkt auf die Dinge ſahen. Mein Vater
ſchien in demſelben Falle geweſen zu ſeyn. Als
des gutmuͤthigen Ludwig Haupt unter der Guil-
lotine fiel, ſah ich ihn tief betruͤbt. „Es iſt trau-
rig,‟ ſagte er, „daß es bis dahin kommen mußte!‟
O haͤtte der edle Koͤnig ſich doch gleich anfangs
losmachen koͤnnen von den anerzogenen Be-
griffen, ſich mit Aufrichtigkeit der Sache des
Volks angeſchloſſen — es waͤre um vieles an-
ders und beſſer geworden. Aber es war faſt
in ſeiner Lage unmoͤglich, der Einfluß ſeiner
Umgebungen war zu maͤchtig, die Raͤnke der
Ausgewanderten, und ihrer Verbuͤndeten wa-
ren zu eingreifend, es konnte faſt nicht anders
enden. Er fiel als ein großes Opfer der Frei-
heit, ein reines ſchuldloſes Opfer! Moͤge es
die unterirdiſchen Goͤtter verſoͤhnen! Die
Nachwelt nennt ihn mit Recht einen Heiligen.
Die Schreckenszeit erfuͤllte meinen Va-
ter mit Grauſen. Sie war aber durch die
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Frölich, Henriette: Virginia oder die Kolonie von Kentucky. Bd. 1. Hrsg. v. Jerta. Berlin, 1820, S. 69. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/froelich_virginia01_1820/79>, abgerufen am 16.02.2025.
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