Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779.

Bild:
<< vorherige Seite

Einige Gedanken
ihren Stücken genug, aber nur nicht die Ge-
schichte des Verliebens. Wenn wir die tragi-
schen Begebenheiten der griechischen Bühne be-
trachten, so finden wir, daß die Liebe viele der-
selben veranlaßt und sich fast in alle gemischt
hat. Was stürzt den Agamemnon, was zerrüt-
tet die Häuser des Atreus, des Jasons, des
Theseus, als die Liebe? Was ist es dann, das
uns die griechischen Dichter in der Klytämnestra,
in der Medea, in der Phädra schildern, als die
Wirkungen der Liebe? Freylich der ausschwei-
fenden, der ehebrecherischen, der schändlichen
Liebe. Aber sie haben auch in der Alcestis das
Gemälde ehelicher Treue aufgestellt. Die Neuern
haben also nicht die Liebe zuerst aufs Theater ge-
bracht; aber sie haben sie auf eine neue Weise
behandelt, einen andern Zeitpunkt derselben, so
zu sagen, gewählt. Die Griechen schildern mehr
die eheliche Liebe, es sey in ihrer Ausschweifung
und Verderbniß, oder in ihrer Vollkommenheit
und Reinigkeit; die Eifersucht einer beleidigten
Frau, oder die Wuth einer Ehebrecherinn ist der

Einige Gedanken
ihren Stuͤcken genug, aber nur nicht die Ge-
ſchichte des Verliebens. Wenn wir die tragi-
ſchen Begebenheiten der griechiſchen Buͤhne be-
trachten, ſo finden wir, daß die Liebe viele der-
ſelben veranlaßt und ſich faſt in alle gemiſcht
hat. Was ſtuͤrzt den Agamemnon, was zerruͤt-
tet die Haͤuſer des Atreus, des Jaſons, des
Theſeus, als die Liebe? Was iſt es dann, das
uns die griechiſchen Dichter in der Klytaͤmneſtra,
in der Medea, in der Phaͤdra ſchildern, als die
Wirkungen der Liebe? Freylich der ausſchwei-
fenden, der ehebrecheriſchen, der ſchaͤndlichen
Liebe. Aber ſie haben auch in der Alceſtis das
Gemaͤlde ehelicher Treue aufgeſtellt. Die Neuern
haben alſo nicht die Liebe zuerſt aufs Theater ge-
bracht; aber ſie haben ſie auf eine neue Weiſe
behandelt, einen andern Zeitpunkt derſelben, ſo
zu ſagen, gewaͤhlt. Die Griechen ſchildern mehr
die eheliche Liebe, es ſey in ihrer Ausſchweifung
und Verderbniß, oder in ihrer Vollkommenheit
und Reinigkeit; die Eiferſucht einer beleidigten
Frau, oder die Wuth einer Ehebrecherinn iſt der

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0342" n="336"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Einige Gedanken</hi></fw><lb/>
ihren Stu&#x0364;cken genug, aber nur nicht die Ge-<lb/>
&#x017F;chichte des Verliebens. Wenn wir die tragi-<lb/>
&#x017F;chen Begebenheiten der griechi&#x017F;chen Bu&#x0364;hne be-<lb/>
trachten, &#x017F;o finden wir, daß die Liebe viele der-<lb/>
&#x017F;elben veranlaßt und &#x017F;ich fa&#x017F;t in alle gemi&#x017F;cht<lb/>
hat. Was &#x017F;tu&#x0364;rzt den Agamemnon, was zerru&#x0364;t-<lb/>
tet die Ha&#x0364;u&#x017F;er des Atreus, des Ja&#x017F;ons, des<lb/>
The&#x017F;eus, als die Liebe? Was i&#x017F;t es dann, das<lb/>
uns die griechi&#x017F;chen Dichter in der Klyta&#x0364;mne&#x017F;tra,<lb/>
in der Medea, in der Pha&#x0364;dra &#x017F;childern, als die<lb/>
Wirkungen der Liebe? Freylich der aus&#x017F;chwei-<lb/>
fenden, der ehebrecheri&#x017F;chen, der &#x017F;cha&#x0364;ndlichen<lb/>
Liebe. Aber &#x017F;ie haben auch in der Alce&#x017F;tis das<lb/>
Gema&#x0364;lde ehelicher Treue aufge&#x017F;tellt. Die Neuern<lb/>
haben al&#x017F;o nicht die Liebe zuer&#x017F;t aufs Theater ge-<lb/>
bracht; aber &#x017F;ie haben &#x017F;ie auf eine neue Wei&#x017F;e<lb/>
behandelt, einen andern Zeitpunkt der&#x017F;elben, &#x017F;o<lb/>
zu &#x017F;agen, gewa&#x0364;hlt. Die Griechen &#x017F;childern mehr<lb/>
die eheliche Liebe, es &#x017F;ey in ihrer Aus&#x017F;chweifung<lb/>
und Verderbniß, oder in ihrer Vollkommenheit<lb/>
und Reinigkeit; die Eifer&#x017F;ucht einer beleidigten<lb/>
Frau, oder die Wuth einer Ehebrecherinn i&#x017F;t der<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[336/0342] Einige Gedanken ihren Stuͤcken genug, aber nur nicht die Ge- ſchichte des Verliebens. Wenn wir die tragi- ſchen Begebenheiten der griechiſchen Buͤhne be- trachten, ſo finden wir, daß die Liebe viele der- ſelben veranlaßt und ſich faſt in alle gemiſcht hat. Was ſtuͤrzt den Agamemnon, was zerruͤt- tet die Haͤuſer des Atreus, des Jaſons, des Theſeus, als die Liebe? Was iſt es dann, das uns die griechiſchen Dichter in der Klytaͤmneſtra, in der Medea, in der Phaͤdra ſchildern, als die Wirkungen der Liebe? Freylich der ausſchwei- fenden, der ehebrecheriſchen, der ſchaͤndlichen Liebe. Aber ſie haben auch in der Alceſtis das Gemaͤlde ehelicher Treue aufgeſtellt. Die Neuern haben alſo nicht die Liebe zuerſt aufs Theater ge- bracht; aber ſie haben ſie auf eine neue Weiſe behandelt, einen andern Zeitpunkt derſelben, ſo zu ſagen, gewaͤhlt. Die Griechen ſchildern mehr die eheliche Liebe, es ſey in ihrer Ausſchweifung und Verderbniß, oder in ihrer Vollkommenheit und Reinigkeit; die Eiferſucht einer beleidigten Frau, oder die Wuth einer Ehebrecherinn iſt der

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/342
Zitationshilfe: Garve, Christian: Sammlung einiger Abhandlungen. Leipzig, 1779, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/garve_sammlung_1779/342>, abgerufen am 12.05.2024.