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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798.

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ungewöhnlichen Fällen diese Urtheile, die wir nach den Regeln der gewöhnlichen Fälle abfassen, unmöglich richtig seyn können, so schließen wir alsdann falsch, ob wir gleich richtig sehen, s. Gesichtsbetrug.

So werden wir selten zween Gegenstände erblicken, ohne zugleich mit dem Anblicke selbst ein Urtheil über ihren wahren Abstand von einander zu fällen. Die Größe, welche wir diesem Urtheile gemäß ihrem wahren Abstande zuschreiben, heißt ebenfalls scheinbarer Abstand, aber in einer ganz andern Bedeutung des Worts. Hiebey kömmt es außer dem optischen Winkel zugleich auf mehrere Umstände an, welche die Seele bey der Beurtheilung des Gesehenen zu Hülfe nimmt.

Um beyde Bedeutungen dieses Worts durch ein Beyspiel zu erläutern, stelle man sich unter den Gegenständen S und T zween in weiter Entfernung gesehene Kirchthürme vor. Der Winkel SOT sey sehr klein, z. B. 15 Minuten. Findet nun der Zuschauer in allem dem, was er sieht, nichts, woraus er schließen könnte, T sey weiter von ihm entfernt, als S, so wird er ganz natürlich beyde für gleich weit halten, und schließen, daß sie zu einerley Dorfe gehören, oder auf einer und ebenderselben Kirche stehen, ob sie gleich in der That sehr weit von einander liegen. Der scheinbare Abstand beyder Thürme ist in der ersten Bedeutung des Worts 15 Minuten, in der zweyten vielleicht wenige Ellen. Man sieht hieraus bald, daß im ersten Falle etwas Bestimmtes, im zweyten etwas Ungewisses ausgedrükt wird, das von Urtheilen abhängt, die bald so, bald anders, bald richtig, bald falsch ausfallen.

Den Hauptgegenstand dieses Artikels aber macht dasjenige aus, was mit dem Namen der schein baren Entfernung eines Gegenstands von uns selbst, oder von unserm Auge belegt zu werden pflegt. Wir sind so sehr gewöhnt, das Sehen mit Urtheilen zu begleiten, daß wir nicht leicht einen Gegenstand erblicken werden, ohne ihn in eine gewisse Entfernung von unserm Auge zu setzen, d. h. ohne ein Urtheil über seinen Abstand von uns zu fällen, obgleich der von ihm ins Auge kommende Lichtstral uns gar


ungewoͤhnlichen Faͤllen dieſe Urtheile, die wir nach den Regeln der gewoͤhnlichen Faͤlle abfaſſen, unmoͤglich richtig ſeyn koͤnnen, ſo ſchließen wir alsdann falſch, ob wir gleich richtig ſehen, ſ. Geſichtsbetrug.

So werden wir ſelten zween Gegenſtaͤnde erblicken, ohne zugleich mit dem Anblicke ſelbſt ein Urtheil uͤber ihren wahren Abſtand von einander zu faͤllen. Die Groͤße, welche wir dieſem Urtheile gemaͤß ihrem wahren Abſtande zuſchreiben, heißt ebenfalls ſcheinbarer Abſtand, aber in einer ganz andern Bedeutung des Worts. Hiebey koͤmmt es außer dem optiſchen Winkel zugleich auf mehrere Umſtaͤnde an, welche die Seele bey der Beurtheilung des Geſehenen zu Huͤlfe nimmt.

Um beyde Bedeutungen dieſes Worts durch ein Beyſpiel zu erlaͤutern, ſtelle man ſich unter den Gegenſtaͤnden S und T zween in weiter Entfernung geſehene Kirchthuͤrme vor. Der Winkel SOT ſey ſehr klein, z. B. 15 Minuten. Findet nun der Zuſchauer in allem dem, was er ſieht, nichts, woraus er ſchließen koͤnnte, T ſey weiter von ihm entfernt, als S, ſo wird er ganz natuͤrlich beyde fuͤr gleich weit halten, und ſchließen, daß ſie zu einerley Dorfe gehoͤren, oder auf einer und ebenderſelben Kirche ſtehen, ob ſie gleich in der That ſehr weit von einander liegen. Der ſcheinbare Abſtand beyder Thuͤrme iſt in der erſten Bedeutung des Worts 15 Minuten, in der zweyten vielleicht wenige Ellen. Man ſieht hieraus bald, daß im erſten Falle etwas Beſtimmtes, im zweyten etwas Ungewiſſes ausgedruͤkt wird, das von Urtheilen abhaͤngt, die bald ſo, bald anders, bald richtig, bald falſch ausfallen.

Den Hauptgegenſtand dieſes Artikels aber macht dasjenige aus, was mit dem Namen der ſchein baren Entfernung eines Gegenſtands von uns ſelbſt, oder von unſerm Auge belegt zu werden pflegt. Wir ſind ſo ſehr gewoͤhnt, das Sehen mit Urtheilen zu begleiten, daß wir nicht leicht einen Gegenſtand erblicken werden, ohne ihn in eine gewiſſe Entfernung von unſerm Auge zu ſetzen, d. h. ohne ein Urtheil uͤber ſeinen Abſtand von uns zu faͤllen, obgleich der von ihm ins Auge kommende Lichtſtral uns gar

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[840/0854] ungewoͤhnlichen Faͤllen dieſe Urtheile, die wir nach den Regeln der gewoͤhnlichen Faͤlle abfaſſen, unmoͤglich richtig ſeyn koͤnnen, ſo ſchließen wir alsdann falſch, ob wir gleich richtig ſehen, ſ. Geſichtsbetrug. So werden wir ſelten zween Gegenſtaͤnde erblicken, ohne zugleich mit dem Anblicke ſelbſt ein Urtheil uͤber ihren wahren Abſtand von einander zu faͤllen. Die Groͤße, welche wir dieſem Urtheile gemaͤß ihrem wahren Abſtande zuſchreiben, heißt ebenfalls ſcheinbarer Abſtand, aber in einer ganz andern Bedeutung des Worts. Hiebey koͤmmt es außer dem optiſchen Winkel zugleich auf mehrere Umſtaͤnde an, welche die Seele bey der Beurtheilung des Geſehenen zu Huͤlfe nimmt. Um beyde Bedeutungen dieſes Worts durch ein Beyſpiel zu erlaͤutern, ſtelle man ſich unter den Gegenſtaͤnden S und T zween in weiter Entfernung geſehene Kirchthuͤrme vor. Der Winkel SOT ſey ſehr klein, z. B. 15 Minuten. Findet nun der Zuſchauer in allem dem, was er ſieht, nichts, woraus er ſchließen koͤnnte, T ſey weiter von ihm entfernt, als S, ſo wird er ganz natuͤrlich beyde fuͤr gleich weit halten, und ſchließen, daß ſie zu einerley Dorfe gehoͤren, oder auf einer und ebenderſelben Kirche ſtehen, ob ſie gleich in der That ſehr weit von einander liegen. Der ſcheinbare Abſtand beyder Thuͤrme iſt in der erſten Bedeutung des Worts 15 Minuten, in der zweyten vielleicht wenige Ellen. Man ſieht hieraus bald, daß im erſten Falle etwas Beſtimmtes, im zweyten etwas Ungewiſſes ausgedruͤkt wird, das von Urtheilen abhaͤngt, die bald ſo, bald anders, bald richtig, bald falſch ausfallen. Den Hauptgegenſtand dieſes Artikels aber macht dasjenige aus, was mit dem Namen der ſchein baren Entfernung eines Gegenſtands von uns ſelbſt, oder von unſerm Auge belegt zu werden pflegt. Wir ſind ſo ſehr gewoͤhnt, das Sehen mit Urtheilen zu begleiten, daß wir nicht leicht einen Gegenſtand erblicken werden, ohne ihn in eine gewiſſe Entfernung von unſerm Auge zu ſetzen, d. h. ohne ein Urtheil uͤber ſeinen Abſtand von uns zu faͤllen, obgleich der von ihm ins Auge kommende Lichtſtral uns gar

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 1. Leipzig, 1798, S. 840. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch01_1798/854>, abgerufen am 24.11.2024.