Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798.
So ist das Sehen, im weitläuftigsten Sinne genommen, wo man die Urtheile über das Gesehene mit begreift, eine Fertigkeit, welche sich die Menschen erst erwerben, und durch Uebung erlernen müssen. Man wird in dieser Kunst endlich so gewiß, daß man bey gewöhnlichen Gegenständen auf den ersten Blick richtig über Größe, Gestalt, Entfernung u. dergl. urtheilt. Manche bringen es darinn vorzüglich weit, und erwerben sich das, was man im gemeinen Leben ein gutes oder scharfes Augenmaaß nennt. In ungewöhnlichen Fällen hingegen urtheilt man falsch, wenn man den gewöhnlichen Regeln solgt, welche für diese Fälle nicht gelten, s. Gesichtsbetrüge. Wollte man hieraus schließen, daß uns die Sinne betrügen, so würde man die eigentliche optische Darstellung, welche jederzeit richtig und den Naturgesetzen gemäß ist, mit dem falschen Urtheile, das die Seele darüber fället, verwechseln. Was Licht und Auge beym Sehen thun, ist immer richtig: nur das ist salsch, daß wir es allemal nach den gewöhnlichen Regeln beurtheilen, obgleich die Umstände bisweilen eine ganz andere Beurtheilung erfordern. Daß man das Sehen, in diesem Sinne genommen, erst erlernen müsse, zeigt sich sehr deutlich an den Blindgebohrnen, welche in einem Alter, wo der Verstand schon gebildet, und das Bewußtseyn deutlich ist, den Gebrauch des Gesichts auf einmal durch eine Operation erhalten. Die Beyspiele solcher Heilungen sind in dieser Absicht ungemein lehrreich. Das bekannteste unter allen ist das von dem englischen Wundarzte Cheselden (Philos. Transact. num. 402. und in Smiths Lehrbegrif der Optik, durch Kästner, S. 40. u. f.) angeführte. Dieser operirte das Auge eines jungen Menschen von dreyzehn Jahren, welcher schon zuvor bey sehr starkem Lichte Farben, aber nie Gestalten, hatte
So iſt das Sehen, im weitlaͤuftigſten Sinne genommen, wo man die Urtheile uͤber das Geſehene mit begreift, eine Fertigkeit, welche ſich die Menſchen erſt erwerben, und durch Uebung erlernen muͤſſen. Man wird in dieſer Kunſt endlich ſo gewiß, daß man bey gewoͤhnlichen Gegenſtaͤnden auf den erſten Blick richtig uͤber Groͤße, Geſtalt, Entfernung u. dergl. urtheilt. Manche bringen es darinn vorzuͤglich weit, und erwerben ſich das, was man im gemeinen Leben ein gutes oder ſcharfes Augenmaaß nennt. In ungewoͤhnlichen Faͤllen hingegen urtheilt man falſch, wenn man den gewoͤhnlichen Regeln ſolgt, welche fuͤr dieſe Faͤlle nicht gelten, ſ. Geſichtsbetruͤge. Wollte man hieraus ſchließen, daß uns die Sinne betruͤgen, ſo wuͤrde man die eigentliche optiſche Darſtellung, welche jederzeit richtig und den Naturgeſetzen gemaͤß iſt, mit dem falſchen Urtheile, das die Seele daruͤber faͤllet, verwechſeln. Was Licht und Auge beym Sehen thun, iſt immer richtig: nur das iſt ſalſch, daß wir es allemal nach den gewoͤhnlichen Regeln beurtheilen, obgleich die Umſtaͤnde bisweilen eine ganz andere Beurtheilung erfordern. Daß man das Sehen, in dieſem Sinne genommen, erſt erlernen muͤſſe, zeigt ſich ſehr deutlich an den Blindgebohrnen, welche in einem Alter, wo der Verſtand ſchon gebildet, und das Bewußtſeyn deutlich iſt, den Gebrauch des Geſichts auf einmal durch eine Operation erhalten. Die Beyſpiele ſolcher Heilungen ſind in dieſer Abſicht ungemein lehrreich. Das bekannteſte unter allen iſt das von dem engliſchen Wundarzte Cheſelden (Philoſ. Transact. num. 402. und in Smiths Lehrbegrif der Optik, durch Kaͤſtner, S. 40. u. f.) angefuͤhrte. Dieſer operirte das Auge eines jungen Menſchen von dreyzehn Jahren, welcher ſchon zuvor bey ſehr ſtarkem Lichte Farben, aber nie Geſtalten, hatte <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0024" xml:id="P.4.14" n="14"/><lb/> daß es der gemeine Mann mit der Empfindung des Sehens ſelbſt verwechſelt, und daß ein eignes Nachdenken dazu gehoͤrt, um die Empfindung der reinen optiſchen Darſtellung (welche mit dem Bilde im Auge uͤbereinſtimmt) von dem Urtheile der Seele uͤber das Geſehene wieder abzuſondern und zu unterſcheiden.</p> <p>So iſt das Sehen, im weitlaͤuftigſten Sinne genommen, wo man die Urtheile uͤber das Geſehene mit begreift, eine Fertigkeit, welche ſich die Menſchen erſt erwerben, und durch Uebung erlernen muͤſſen. Man wird in dieſer Kunſt endlich ſo gewiß, daß man bey gewoͤhnlichen Gegenſtaͤnden auf den erſten Blick richtig uͤber Groͤße, Geſtalt, Entfernung u. dergl. urtheilt. Manche bringen es darinn vorzuͤglich weit, und erwerben ſich das, was man im gemeinen Leben ein <hi rendition="#b">gutes</hi> oder <hi rendition="#b">ſcharfes Augenmaaß</hi> nennt. In ungewoͤhnlichen Faͤllen hingegen urtheilt man falſch, wenn man den gewoͤhnlichen Regeln ſolgt, welche fuͤr dieſe Faͤlle nicht gelten, <hi rendition="#b">ſ. Geſichtsbetruͤge.</hi> Wollte man hieraus ſchließen, daß uns die Sinne betruͤgen, ſo wuͤrde man die eigentliche optiſche Darſtellung, welche jederzeit richtig und den Naturgeſetzen gemaͤß iſt, mit dem falſchen Urtheile, das die Seele daruͤber faͤllet, verwechſeln. Was Licht und Auge beym Sehen thun, iſt immer richtig: nur das iſt ſalſch, daß wir es allemal nach den gewoͤhnlichen Regeln beurtheilen, obgleich die Umſtaͤnde bisweilen eine ganz andere Beurtheilung erfordern.</p> <p>Daß man das Sehen, in dieſem Sinne genommen, erſt erlernen muͤſſe, zeigt ſich ſehr deutlich an den Blindgebohrnen, welche in einem Alter, wo der Verſtand ſchon gebildet, und das Bewußtſeyn deutlich iſt, den Gebrauch des Geſichts auf einmal durch eine Operation erhalten. Die Beyſpiele ſolcher Heilungen ſind in dieſer Abſicht ungemein lehrreich. Das bekannteſte unter allen iſt das von dem engliſchen Wundarzte <hi rendition="#b">Cheſelden</hi> (<hi rendition="#aq">Philoſ. Transact. num. 402.</hi> und in <hi rendition="#b">Smiths</hi> Lehrbegrif der Optik, durch <hi rendition="#b">Kaͤſtner,</hi> S. 40. u. f.) angefuͤhrte. Dieſer operirte das Auge eines jungen Menſchen von dreyzehn Jahren, welcher ſchon zuvor bey ſehr ſtarkem Lichte Farben, aber nie Geſtalten, hatte<lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [14/0024]
daß es der gemeine Mann mit der Empfindung des Sehens ſelbſt verwechſelt, und daß ein eignes Nachdenken dazu gehoͤrt, um die Empfindung der reinen optiſchen Darſtellung (welche mit dem Bilde im Auge uͤbereinſtimmt) von dem Urtheile der Seele uͤber das Geſehene wieder abzuſondern und zu unterſcheiden.
So iſt das Sehen, im weitlaͤuftigſten Sinne genommen, wo man die Urtheile uͤber das Geſehene mit begreift, eine Fertigkeit, welche ſich die Menſchen erſt erwerben, und durch Uebung erlernen muͤſſen. Man wird in dieſer Kunſt endlich ſo gewiß, daß man bey gewoͤhnlichen Gegenſtaͤnden auf den erſten Blick richtig uͤber Groͤße, Geſtalt, Entfernung u. dergl. urtheilt. Manche bringen es darinn vorzuͤglich weit, und erwerben ſich das, was man im gemeinen Leben ein gutes oder ſcharfes Augenmaaß nennt. In ungewoͤhnlichen Faͤllen hingegen urtheilt man falſch, wenn man den gewoͤhnlichen Regeln ſolgt, welche fuͤr dieſe Faͤlle nicht gelten, ſ. Geſichtsbetruͤge. Wollte man hieraus ſchließen, daß uns die Sinne betruͤgen, ſo wuͤrde man die eigentliche optiſche Darſtellung, welche jederzeit richtig und den Naturgeſetzen gemaͤß iſt, mit dem falſchen Urtheile, das die Seele daruͤber faͤllet, verwechſeln. Was Licht und Auge beym Sehen thun, iſt immer richtig: nur das iſt ſalſch, daß wir es allemal nach den gewoͤhnlichen Regeln beurtheilen, obgleich die Umſtaͤnde bisweilen eine ganz andere Beurtheilung erfordern.
Daß man das Sehen, in dieſem Sinne genommen, erſt erlernen muͤſſe, zeigt ſich ſehr deutlich an den Blindgebohrnen, welche in einem Alter, wo der Verſtand ſchon gebildet, und das Bewußtſeyn deutlich iſt, den Gebrauch des Geſichts auf einmal durch eine Operation erhalten. Die Beyſpiele ſolcher Heilungen ſind in dieſer Abſicht ungemein lehrreich. Das bekannteſte unter allen iſt das von dem engliſchen Wundarzte Cheſelden (Philoſ. Transact. num. 402. und in Smiths Lehrbegrif der Optik, durch Kaͤſtner, S. 40. u. f.) angefuͤhrte. Dieſer operirte das Auge eines jungen Menſchen von dreyzehn Jahren, welcher ſchon zuvor bey ſehr ſtarkem Lichte Farben, aber nie Geſtalten, hatte
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