unterscheiden können. Nach der Operation reichten dennoch seine schwachen Begriffe von Farben nicht zu, sie ihm noch kenntlich zu machen, und er hielt sie nicht mehr sür diejenigen, die er zuvor unter diesen Namen gekannt hatte. Die lebhaftesten Farben gefielen ihm am besten, und Scharlach schien ihm unter allen die schönste; Schwarz mißfiel ihm, und er brauchte einige Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Von den Entfernungen wußte er so wenig zu urtheilen, daß er vielmehr glaubte, alles, was er sähe, berührte sein Auge so, wie das, was er fühlte, die Haut. Ob ihm gleich glatte und regelmäßige Formen angenehm waren, so unterschied er doch keine Gestalten ohne Mühe und ohne wiederholte aufmerksame Betrachtung. Er lernte in einem Tage tausend Dinge und Namen kennen, deren Verbindungen er wieder vergaß und verwechselte; es dauerte z. B. sehr lange, ehe er durch das Gesicht allein den Hund und die Katze unterscheiden lernte. Er verwunderte sich sehr, daß die Sachen, die seinem Gefühl am angenehmsten geschienen hatten, nicht auch seinen Augen am besten gefielen: er hatte erwartet, die Personen, die er am meisten liebte, sollten am schönsten aussehen, und was ihm am besten schmeckte, sollte auch das Gesicht am meisten reizen. Gemälde sahe er anfänglich nur als bunte Flächen an; als er aber nach zween Monaten plötzlich die Entdeckung machte, daß sie Körper mit erhabnen und vertieften Theilen vorstellten, war er nicht wenig erstaunt, daß sie sich dennoch eben und glatt anfühlten, und fragte, welcher von seinen Sinnen der Betrüger sey, ob das Gesicht oder das Gefühl.
Im Anfange hielt er alles für sehr groß; als er aber größere Sachen sahe, hielt er die vorigen für kleiner, und konnte sich nun keine Dinge außerhalb der Grenzen, die er sahe, vorstellen. So wußte er, daß das Zimmer ein Theil des Hauses sey, konnte aber nicht begreifen, daß das Haus größer aussehen könne, als das Zimmer. Vor der Operation versprach er sich nicht viel Vortheil von derselben, weil er nicht begriff, was der Sinn des Gesichts zur Vermehrung seiner Glückseligkeit beytragen könne; nachher aber
unterſcheiden koͤnnen. Nach der Operation reichten dennoch ſeine ſchwachen Begriffe von Farben nicht zu, ſie ihm noch kenntlich zu machen, und er hielt ſie nicht mehr ſuͤr diejenigen, die er zuvor unter dieſen Namen gekannt hatte. Die lebhafteſten Farben gefielen ihm am beſten, und Scharlach ſchien ihm unter allen die ſchoͤnſte; Schwarz mißfiel ihm, und er brauchte einige Zeit, um ſich daran zu gewoͤhnen. Von den Entfernungen wußte er ſo wenig zu urtheilen, daß er vielmehr glaubte, alles, was er ſaͤhe, beruͤhrte ſein Auge ſo, wie das, was er fuͤhlte, die Haut. Ob ihm gleich glatte und regelmaͤßige Formen angenehm waren, ſo unterſchied er doch keine Geſtalten ohne Muͤhe und ohne wiederholte aufmerkſame Betrachtung. Er lernte in einem Tage tauſend Dinge und Namen kennen, deren Verbindungen er wieder vergaß und verwechſelte; es dauerte z. B. ſehr lange, ehe er durch das Geſicht allein den Hund und die Katze unterſcheiden lernte. Er verwunderte ſich ſehr, daß die Sachen, die ſeinem Gefuͤhl am angenehmſten geſchienen hatten, nicht auch ſeinen Augen am beſten gefielen: er hatte erwartet, die Perſonen, die er am meiſten liebte, ſollten am ſchoͤnſten ausſehen, und was ihm am beſten ſchmeckte, ſollte auch das Geſicht am meiſten reizen. Gemaͤlde ſahe er anfaͤnglich nur als bunte Flaͤchen an; als er aber nach zween Monaten ploͤtzlich die Entdeckung machte, daß ſie Koͤrper mit erhabnen und vertieften Theilen vorſtellten, war er nicht wenig erſtaunt, daß ſie ſich dennoch eben und glatt anfuͤhlten, und fragte, welcher von ſeinen Sinnen der Betruͤger ſey, ob das Geſicht oder das Gefuͤhl.
Im Anfange hielt er alles fuͤr ſehr groß; als er aber groͤßere Sachen ſahe, hielt er die vorigen fuͤr kleiner, und konnte ſich nun keine Dinge außerhalb der Grenzen, die er ſahe, vorſtellen. So wußte er, daß das Zimmer ein Theil des Hauſes ſey, konnte aber nicht begreifen, daß das Haus groͤßer ausſehen koͤnne, als das Zimmer. Vor der Operation verſprach er ſich nicht viel Vortheil von derſelben, weil er nicht begriff, was der Sinn des Geſichts zur Vermehrung ſeiner Gluͤckſeligkeit beytragen koͤnne; nachher aber
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unterſcheiden koͤnnen. Nach der Operation reichten dennoch ſeine ſchwachen Begriffe von Farben nicht zu, ſie ihm noch kenntlich zu machen, und er hielt ſie nicht mehr ſuͤr diejenigen, die er zuvor unter dieſen Namen gekannt hatte. Die lebhafteſten Farben gefielen ihm am beſten, und Scharlach ſchien ihm unter allen die ſchoͤnſte; Schwarz mißfiel ihm, und er brauchte einige Zeit, um ſich daran zu gewoͤhnen. Von den Entfernungen wußte er ſo wenig zu urtheilen, daß er vielmehr glaubte, alles, was er ſaͤhe, beruͤhrte ſein Auge ſo, wie das, was er fuͤhlte, die Haut. Ob ihm gleich glatte und regelmaͤßige Formen angenehm waren, ſo unterſchied er doch keine Geſtalten ohne Muͤhe und ohne wiederholte aufmerkſame Betrachtung. Er lernte in einem Tage tauſend Dinge und Namen kennen, deren Verbindungen er wieder vergaß und verwechſelte; es dauerte z. B. ſehr lange, ehe er durch das Geſicht allein den Hund und die Katze unterſcheiden lernte. Er verwunderte ſich ſehr, daß die Sachen, die ſeinem Gefuͤhl am angenehmſten geſchienen hatten, nicht auch ſeinen Augen am beſten gefielen: er hatte erwartet, die Perſonen, die er am meiſten liebte, ſollten am ſchoͤnſten ausſehen, und was ihm am beſten ſchmeckte, ſollte auch das Geſicht am meiſten reizen. Gemaͤlde ſahe er anfaͤnglich nur als bunte Flaͤchen an; als er aber nach zween Monaten ploͤtzlich die Entdeckung machte, daß ſie Koͤrper mit erhabnen und vertieften Theilen vorſtellten, war er nicht wenig erſtaunt, daß ſie ſich dennoch eben und glatt anfuͤhlten, und fragte, welcher von ſeinen Sinnen der Betruͤger ſey, ob das Geſicht oder das Gefuͤhl.</p><p>Im Anfange hielt er alles fuͤr ſehr groß; als er aber groͤßere Sachen ſahe, hielt er die vorigen fuͤr kleiner, und konnte ſich nun keine Dinge außerhalb der Grenzen, die er ſahe, vorſtellen. So wußte er, daß das Zimmer ein Theil des Hauſes ſey, konnte aber nicht begreifen, daß das Haus groͤßer ausſehen koͤnne, als das Zimmer. Vor der Operation verſprach er ſich nicht viel Vortheil von derſelben, weil er nicht begriff, was der Sinn des Geſichts zur Vermehrung ſeiner Gluͤckſeligkeit beytragen koͤnne; nachher aber<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
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unterſcheiden koͤnnen. Nach der Operation reichten dennoch ſeine ſchwachen Begriffe von Farben nicht zu, ſie ihm noch kenntlich zu machen, und er hielt ſie nicht mehr ſuͤr diejenigen, die er zuvor unter dieſen Namen gekannt hatte. Die lebhafteſten Farben gefielen ihm am beſten, und Scharlach ſchien ihm unter allen die ſchoͤnſte; Schwarz mißfiel ihm, und er brauchte einige Zeit, um ſich daran zu gewoͤhnen. Von den Entfernungen wußte er ſo wenig zu urtheilen, daß er vielmehr glaubte, alles, was er ſaͤhe, beruͤhrte ſein Auge ſo, wie das, was er fuͤhlte, die Haut. Ob ihm gleich glatte und regelmaͤßige Formen angenehm waren, ſo unterſchied er doch keine Geſtalten ohne Muͤhe und ohne wiederholte aufmerkſame Betrachtung. Er lernte in einem Tage tauſend Dinge und Namen kennen, deren Verbindungen er wieder vergaß und verwechſelte; es dauerte z. B. ſehr lange, ehe er durch das Geſicht allein den Hund und die Katze unterſcheiden lernte. Er verwunderte ſich ſehr, daß die Sachen, die ſeinem Gefuͤhl am angenehmſten geſchienen hatten, nicht auch ſeinen Augen am beſten gefielen: er hatte erwartet, die Perſonen, die er am meiſten liebte, ſollten am ſchoͤnſten ausſehen, und was ihm am beſten ſchmeckte, ſollte auch das Geſicht am meiſten reizen. Gemaͤlde ſahe er anfaͤnglich nur als bunte Flaͤchen an; als er aber nach zween Monaten ploͤtzlich die Entdeckung machte, daß ſie Koͤrper mit erhabnen und vertieften Theilen vorſtellten, war er nicht wenig erſtaunt, daß ſie ſich dennoch eben und glatt anfuͤhlten, und fragte, welcher von ſeinen Sinnen der Betruͤger ſey, ob das Geſicht oder das Gefuͤhl.
Im Anfange hielt er alles fuͤr ſehr groß; als er aber groͤßere Sachen ſahe, hielt er die vorigen fuͤr kleiner, und konnte ſich nun keine Dinge außerhalb der Grenzen, die er ſahe, vorſtellen. So wußte er, daß das Zimmer ein Theil des Hauſes ſey, konnte aber nicht begreifen, daß das Haus groͤßer ausſehen koͤnne, als das Zimmer. Vor der Operation verſprach er ſich nicht viel Vortheil von derſelben, weil er nicht begriff, was der Sinn des Geſichts zur Vermehrung ſeiner Gluͤckſeligkeit beytragen koͤnne; nachher aber
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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 4. Leipzig, 1798, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch04_1798/25>, abgerufen am 21.11.2024.
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