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Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 5. Leipzig, 1799.

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Phänomenen geschlossen hat, als eine unmittelbare Verbindung ihres Wesens mit der Materie selbst anzusehen.

Eine solche Vorstellung ist an sich nicht zu verwerfen, wenn sie blos als Bezeichnung einer Ursache gebraucht wird, die man nicht weiter erklären kan. Sie vertritt alsdann die Stelle eines Geständnisses der Unwissenheit. Sobald man aber dieses vergessen, und sich unter den Grundkräften wirkliche mit der Materie verbundene Wesen denken wollte, die den Grund der Naturbegebenheiten enthielten, so würde die Sache auf eine Wiedereinführung der verborgenen Qualitäten hinauslaufen, und was Geständniß des Nichtwissens seyn sollte, würde in Anmaßung eines eingebildeten Wissens ausarten. Welchen Schwierigkeiten man sich aussetze, wenn man die Schwerkraft als der Materie inhärirend betrachtet, habe ich bey dem Worte Gravitation (Th. II. S. 527--529) ausführlich gezeigt; auch wird man es nach dem, was im Art. Schwere (Th. III. S. 900) gesagt ist, sehr wahrscheinlich finden, daß die Schwere in der That noch eine weitere Ursache haben müsse; und eben diese Bewandniß hat es auch mit der Cohäsion und der Ausdehnungskraft elastischer Materien. Mir scheint es daher immer sicherer und angemessener, dieses alles nach dem bisherigen Sprachgebrauche der Physik Kräfte zu nennen, welche in die Materie wirken, und deren Ursprung wir nicht kennen, als zu sagen, es seyen Grundkräfte, die der Materie inhäriren.

Auch stimmt dieses Letztere nicht wohl mit dem Begriffe von Trägheit überein, nach welchem man die Kräfte von der Materie abgesondert, als den thätigen Theil, die Materie selbst aber, als blos leidend betrachtet, s. Trägheit (Th. IV. S. 394.). Zwar ist Trägheit, eben sowohl als Grundkraft, bloße Vorstellung, und ob die Kräfte sich wirklich in oder außer der Materie befinden, muß man bey beyden unentschieden lassen. Dennoch streiten beyde Vorstellungen, als solche, offenbar mit einander, und es bleibt immer unbequem, beyde zugleich in die Physik einzuführen. Denn wenn man nicht überall gehörig unterscheidet, so kan ein solches Verfahren gar leicht zu Fehlschüssen Anlaß geben.


Phaͤnomenen geſchloſſen hat, als eine unmittelbare Verbindung ihres Weſens mit der Materie ſelbſt anzuſehen.

Eine ſolche Vorſtellung iſt an ſich nicht zu verwerfen, wenn ſie blos als Bezeichnung einer Urſache gebraucht wird, die man nicht weiter erklaͤren kan. Sie vertritt alsdann die Stelle eines Geſtaͤndniſſes der Unwiſſenheit. Sobald man aber dieſes vergeſſen, und ſich unter den Grundkraͤften wirkliche mit der Materie verbundene Weſen denken wollte, die den Grund der Naturbegebenheiten enthielten, ſo wuͤrde die Sache auf eine Wiedereinfuͤhrung der verborgenen Qualitaͤten hinauslaufen, und was Geſtaͤndniß des Nichtwiſſens ſeyn ſollte, wuͤrde in Anmaßung eines eingebildeten Wiſſens ausarten. Welchen Schwierigkeiten man ſich ausſetze, wenn man die Schwerkraft als der Materie inhaͤrirend betrachtet, habe ich bey dem Worte Gravitation (Th. II. S. 527—529) ausfuͤhrlich gezeigt; auch wird man es nach dem, was im Art. Schwere (Th. III. S. 900) geſagt iſt, ſehr wahrſcheinlich finden, daß die Schwere in der That noch eine weitere Urſache haben muͤſſe; und eben dieſe Bewandniß hat es auch mit der Cohaͤſion und der Ausdehnungskraft elaſtiſcher Materien. Mir ſcheint es daher immer ſicherer und angemeſſener, dieſes alles nach dem bisherigen Sprachgebrauche der Phyſik Kraͤfte zu nennen, welche in die Materie wirken, und deren Urſprung wir nicht kennen, als zu ſagen, es ſeyen Grundkraͤfte, die der Materie inhaͤriren.

Auch ſtimmt dieſes Letztere nicht wohl mit dem Begriffe von Traͤgheit uͤberein, nach welchem man die Kraͤfte von der Materie abgeſondert, als den thaͤtigen Theil, die Materie ſelbſt aber, als blos leidend betrachtet, ſ. Traͤgheit (Th. IV. S. 394.). Zwar iſt Traͤgheit, eben ſowohl als Grundkraft, bloße Vorſtellung, und ob die Kraͤfte ſich wirklich in oder außer der Materie befinden, muß man bey beyden unentſchieden laſſen. Dennoch ſtreiten beyde Vorſtellungen, als ſolche, offenbar mit einander, und es bleibt immer unbequem, beyde zugleich in die Phyſik einzufuͤhren. Denn wenn man nicht uͤberall gehoͤrig unterſcheidet, ſo kan ein ſolches Verfahren gar leicht zu Fehlſchuͤſſen Anlaß geben.

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[485/0497] Phaͤnomenen geſchloſſen hat, als eine unmittelbare Verbindung ihres Weſens mit der Materie ſelbſt anzuſehen. Eine ſolche Vorſtellung iſt an ſich nicht zu verwerfen, wenn ſie blos als Bezeichnung einer Urſache gebraucht wird, die man nicht weiter erklaͤren kan. Sie vertritt alsdann die Stelle eines Geſtaͤndniſſes der Unwiſſenheit. Sobald man aber dieſes vergeſſen, und ſich unter den Grundkraͤften wirkliche mit der Materie verbundene Weſen denken wollte, die den Grund der Naturbegebenheiten enthielten, ſo wuͤrde die Sache auf eine Wiedereinfuͤhrung der verborgenen Qualitaͤten hinauslaufen, und was Geſtaͤndniß des Nichtwiſſens ſeyn ſollte, wuͤrde in Anmaßung eines eingebildeten Wiſſens ausarten. Welchen Schwierigkeiten man ſich ausſetze, wenn man die Schwerkraft als der Materie inhaͤrirend betrachtet, habe ich bey dem Worte Gravitation (Th. II. S. 527—529) ausfuͤhrlich gezeigt; auch wird man es nach dem, was im Art. Schwere (Th. III. S. 900) geſagt iſt, ſehr wahrſcheinlich finden, daß die Schwere in der That noch eine weitere Urſache haben muͤſſe; und eben dieſe Bewandniß hat es auch mit der Cohaͤſion und der Ausdehnungskraft elaſtiſcher Materien. Mir ſcheint es daher immer ſicherer und angemeſſener, dieſes alles nach dem bisherigen Sprachgebrauche der Phyſik Kraͤfte zu nennen, welche in die Materie wirken, und deren Urſprung wir nicht kennen, als zu ſagen, es ſeyen Grundkraͤfte, die der Materie inhaͤriren. Auch ſtimmt dieſes Letztere nicht wohl mit dem Begriffe von Traͤgheit uͤberein, nach welchem man die Kraͤfte von der Materie abgeſondert, als den thaͤtigen Theil, die Materie ſelbſt aber, als blos leidend betrachtet, ſ. Traͤgheit (Th. IV. S. 394.). Zwar iſt Traͤgheit, eben ſowohl als Grundkraft, bloße Vorſtellung, und ob die Kraͤfte ſich wirklich in oder außer der Materie befinden, muß man bey beyden unentſchieden laſſen. Dennoch ſtreiten beyde Vorſtellungen, als ſolche, offenbar mit einander, und es bleibt immer unbequem, beyde zugleich in die Phyſik einzufuͤhren. Denn wenn man nicht uͤberall gehoͤrig unterſcheidet, ſo kan ein ſolches Verfahren gar leicht zu Fehlſchuͤſſen Anlaß geben.

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Zitationshilfe: Gehler, Johann Samuel Traugott: Physikalisches Wörterbuch, oder, Versuch einer Erklärung der vornehmsten Begriffe und Kunstwörter der Naturlehre. Bd. 5. Leipzig, 1799, S. 485. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/gehler_woerterbuch05_1799/497>, abgerufen am 26.06.2024.