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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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Kunst hat die alte griechische Zeit gebildet; aber blind
war wie die alte Plastik die treffliche Gestalt, das
tiefe, schwärmerisch versunkene Auge hat erst die Ro-
mantik ihm gegeben, und die nordische Schaam hat
freilich dafür den schönen Körper in die Drapperie des
Gewands verhüllt, das symbolisch nur die Formen der
Gliedmaßen anzudeuten hat. Lassen wir so jeder Zeit
ihr Recht, die Zukunft wird uns auch das Unsrige
lassen; jede schnöde Herabwürdigung, jede einseitige
Aufgeblasenheit ist verwerflich in sich selbst, und muß
endlich am eignen Selbstmord sterben. Es würde kläglich
seyn, wenn je die Achtung und die Liebe für griechischen
Sinn und griechische Kunst unter uns aussterben sollte,
besonders itzt, wo beide Nationen sich wenigstens im
Unglück gleich geworden sind: aber wenn wir selbst
unsere Eigenthümlichkeit nicht geltend zu machen ver-
stehen, dann laßt uns vor allem doch nicht so leichtsin-
nig das Andenken an Die hingeben, die recht gut die
Ihrige zu vertheidigen wußten. Wenn es uns gelingt,
einen Theil des Geistes, der in ihren Werken lebt, in
uns einzusaugen; wenn wir unsere Frivolität umtauschen
gegen den gediegenen Sinn, in dem sie handelten;
wenn wir versuchen, da wir nun so vernünftig sind, auch
verständig endlich einmal zu werden, um nicht so gar plumb
und ungeschickt durch's Leben durchzustolpern: wenn wir

Kunſt hat die alte griechiſche Zeit gebildet; aber blind
war wie die alte Plaſtik die treffliche Geſtalt, das
tiefe, ſchwärmeriſch verſunkene Auge hat erſt die Ro-
mantik ihm gegeben, und die nordiſche Schaam hat
freilich dafür den ſchönen Körper in die Drapperie des
Gewands verhüllt, das ſymboliſch nur die Formen der
Gliedmaßen anzudeuten hat. Laſſen wir ſo jeder Zeit
ihr Recht, die Zukunft wird uns auch das Unſrige
laſſen; jede ſchnöde Herabwürdigung, jede einſeitige
Aufgeblaſenheit iſt verwerflich in ſich ſelbſt, und muß
endlich am eignen Selbſtmord ſterben. Es würde kläglich
ſeyn, wenn je die Achtung und die Liebe für griechiſchen
Sinn und griechiſche Kunſt unter uns ausſterben ſollte,
beſonders itzt, wo beide Nationen ſich wenigſtens im
Unglück gleich geworden ſind: aber wenn wir ſelbſt
unſere Eigenthümlichkeit nicht geltend zu machen ver-
ſtehen, dann laßt uns vor allem doch nicht ſo leichtſin-
nig das Andenken an Die hingeben, die recht gut die
Ihrige zu vertheidigen wußten. Wenn es uns gelingt,
einen Theil des Geiſtes, der in ihren Werken lebt, in
uns einzuſaugen; wenn wir unſere Frivolität umtauſchen
gegen den gediegenen Sinn, in dem ſie handelten;
wenn wir verſuchen, da wir nun ſo vernünftig ſind, auch
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[302/0320] Kunſt hat die alte griechiſche Zeit gebildet; aber blind war wie die alte Plaſtik die treffliche Geſtalt, das tiefe, ſchwärmeriſch verſunkene Auge hat erſt die Ro- mantik ihm gegeben, und die nordiſche Schaam hat freilich dafür den ſchönen Körper in die Drapperie des Gewands verhüllt, das ſymboliſch nur die Formen der Gliedmaßen anzudeuten hat. Laſſen wir ſo jeder Zeit ihr Recht, die Zukunft wird uns auch das Unſrige laſſen; jede ſchnöde Herabwürdigung, jede einſeitige Aufgeblaſenheit iſt verwerflich in ſich ſelbſt, und muß endlich am eignen Selbſtmord ſterben. Es würde kläglich ſeyn, wenn je die Achtung und die Liebe für griechiſchen Sinn und griechiſche Kunſt unter uns ausſterben ſollte, beſonders itzt, wo beide Nationen ſich wenigſtens im Unglück gleich geworden ſind: aber wenn wir ſelbſt unſere Eigenthümlichkeit nicht geltend zu machen ver- ſtehen, dann laßt uns vor allem doch nicht ſo leichtſin- nig das Andenken an Die hingeben, die recht gut die Ihrige zu vertheidigen wußten. Wenn es uns gelingt, einen Theil des Geiſtes, der in ihren Werken lebt, in uns einzuſaugen; wenn wir unſere Frivolität umtauſchen gegen den gediegenen Sinn, in dem ſie handelten; wenn wir verſuchen, da wir nun ſo vernünftig ſind, auch verſtändig endlich einmal zu werden, um nicht ſo gar plumb und ungeſchickt durch’s Leben durchzuſtolpern: wenn wir

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/320>, abgerufen am 21.11.2024.