Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Werk nun in Tafeln von Erz gegraben im großen Tempel
der Nation aufgestellt. Die Tradition selbst aber, nach-
dem sie auf diese Weise ein bleibendes Organ gefunden,
verlor nun als Solche sich allmählig; während Andere
Jahrhunderte hindurch umsonst auf die gleiche Erlösung
wartend, von der fortschreitenden Kultur erreicht, in
sich vergangen sind, und noch Andere in den entlegneren
Gegenden, wo die Zeit das alte Dunkel noch nicht auf-
geklärt, in der Dämmerung stillen Lichtern gleich,
schweben, und auf eine bessere Zukunft verzweifelnd
harren, weil die Misgunst der Umstände nicht wollte,
daß die Vergangenheit ihnen Körper und Bestand gege-
ben hätte. Von vielen dieser Volksbücher sagt ihre
Geschichte ausdrücklich, daß sie auf solche Weise entstan-
den sind; Andere tragen unverkennbar den Character
dieser Abkunft in ihrem ganzen Wesen, und wenn man
bei noch Anderen auf besondere historische Quellen sich be-
ruft, dann findet man, wenn man die Natur dieser Quellen
genauer prüft, immer wieder, wie sie zuletzt auf jene
Sagen sich beziehen, und aus ihnen sich gesammelt
haben.

Was aber die Didactischen, Lehrenden unter den
Volksbüchern betrifft, so sind sie eben ihres innern reflec-
tirenden Characters wegen durchaus modern, und in
demselben Grade mehr modern, wie das Verständige in

Werk nun in Tafeln von Erz gegraben im großen Tempel
der Nation aufgeſtellt. Die Tradition ſelbſt aber, nach-
dem ſie auf dieſe Weiſe ein bleibendes Organ gefunden,
verlor nun als Solche ſich allmählig; während Andere
Jahrhunderte hindurch umſonſt auf die gleiche Erlöſung
wartend, von der fortſchreitenden Kultur erreicht, in
ſich vergangen ſind, und noch Andere in den entlegneren
Gegenden, wo die Zeit das alte Dunkel noch nicht auf-
geklärt, in der Dämmerung ſtillen Lichtern gleich,
ſchweben, und auf eine beſſere Zukunft verzweifelnd
harren, weil die Misgunſt der Umſtände nicht wollte,
daß die Vergangenheit ihnen Körper und Beſtand gege-
ben hätte. Von vielen dieſer Volksbücher ſagt ihre
Geſchichte ausdrücklich, daß ſie auf ſolche Weiſe entſtan-
den ſind; Andere tragen unverkennbar den Character
dieſer Abkunft in ihrem ganzen Weſen, und wenn man
bei noch Anderen auf beſondere hiſtoriſche Quellen ſich be-
ruft, dann findet man, wenn man die Natur dieſer Quellen
genauer prüft, immer wieder, wie ſie zuletzt auf jene
Sagen ſich beziehen, und aus ihnen ſich geſammelt
haben.

Was aber die Didactiſchen, Lehrenden unter den
Volksbüchern betrifft, ſo ſind ſie eben ihres innern reflec-
tirenden Characters wegen durchaus modern, und in
demſelben Grade mehr modern, wie das Verſtändige in

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0037" n="19"/>
Werk nun in Tafeln von Erz gegraben im großen Tempel<lb/>
der Nation aufge&#x017F;tellt. Die Tradition &#x017F;elb&#x017F;t aber, nach-<lb/>
dem &#x017F;ie auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e ein bleibendes Organ gefunden,<lb/>
verlor nun als Solche &#x017F;ich allmählig; während Andere<lb/>
Jahrhunderte hindurch um&#x017F;on&#x017F;t auf die gleiche Erlö&#x017F;ung<lb/>
wartend, von der fort&#x017F;chreitenden Kultur erreicht, in<lb/>
&#x017F;ich vergangen &#x017F;ind, und noch Andere in den entlegneren<lb/>
Gegenden, wo die Zeit das alte Dunkel noch nicht auf-<lb/>
geklärt, in der Dämmerung &#x017F;tillen Lichtern gleich,<lb/>
&#x017F;chweben, und auf eine be&#x017F;&#x017F;ere Zukunft verzweifelnd<lb/>
harren, weil die Misgun&#x017F;t der Um&#x017F;tände nicht wollte,<lb/>
daß die Vergangenheit ihnen Körper und Be&#x017F;tand gege-<lb/>
ben hätte. Von vielen die&#x017F;er Volksbücher &#x017F;agt ihre<lb/>
Ge&#x017F;chichte ausdrücklich, daß &#x017F;ie auf &#x017F;olche Wei&#x017F;e ent&#x017F;tan-<lb/>
den &#x017F;ind; Andere tragen unverkennbar den Character<lb/>
die&#x017F;er Abkunft in ihrem ganzen We&#x017F;en, und wenn man<lb/>
bei noch Anderen auf be&#x017F;ondere hi&#x017F;tori&#x017F;che Quellen &#x017F;ich be-<lb/>
ruft, dann findet man, wenn man die Natur die&#x017F;er Quellen<lb/>
genauer prüft, immer wieder, wie &#x017F;ie zuletzt auf jene<lb/>
Sagen &#x017F;ich beziehen, und aus ihnen &#x017F;ich ge&#x017F;ammelt<lb/>
haben.</p><lb/>
        <p>Was aber die Didacti&#x017F;chen, Lehrenden unter den<lb/>
Volksbüchern betrifft, &#x017F;o &#x017F;ind &#x017F;ie eben ihres innern reflec-<lb/>
tirenden Characters wegen durchaus modern, und in<lb/>
dem&#x017F;elben Grade mehr modern, wie das Ver&#x017F;tändige in<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0037] Werk nun in Tafeln von Erz gegraben im großen Tempel der Nation aufgeſtellt. Die Tradition ſelbſt aber, nach- dem ſie auf dieſe Weiſe ein bleibendes Organ gefunden, verlor nun als Solche ſich allmählig; während Andere Jahrhunderte hindurch umſonſt auf die gleiche Erlöſung wartend, von der fortſchreitenden Kultur erreicht, in ſich vergangen ſind, und noch Andere in den entlegneren Gegenden, wo die Zeit das alte Dunkel noch nicht auf- geklärt, in der Dämmerung ſtillen Lichtern gleich, ſchweben, und auf eine beſſere Zukunft verzweifelnd harren, weil die Misgunſt der Umſtände nicht wollte, daß die Vergangenheit ihnen Körper und Beſtand gege- ben hätte. Von vielen dieſer Volksbücher ſagt ihre Geſchichte ausdrücklich, daß ſie auf ſolche Weiſe entſtan- den ſind; Andere tragen unverkennbar den Character dieſer Abkunft in ihrem ganzen Weſen, und wenn man bei noch Anderen auf beſondere hiſtoriſche Quellen ſich be- ruft, dann findet man, wenn man die Natur dieſer Quellen genauer prüft, immer wieder, wie ſie zuletzt auf jene Sagen ſich beziehen, und aus ihnen ſich geſammelt haben. Was aber die Didactiſchen, Lehrenden unter den Volksbüchern betrifft, ſo ſind ſie eben ihres innern reflec- tirenden Characters wegen durchaus modern, und in demſelben Grade mehr modern, wie das Verſtändige in

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/37
Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/37>, abgerufen am 05.05.2024.