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Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

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an das Bild als an den Ton gebunden, und daher
Zauberspiegeln gleich, in denen das Volk sich und seine
Vergangenheit, und seine Zukunft, und die andere
Welt, und sein innerstes geheimstes Gemüth, und Alles
was es sich selbst nicht nennen kann, deutlich und klar
ausgesprochen vor sich stehen sieht; diese Gebilde mußten
vorzüglich in jenem äußeren Fixirenden ein glückliches
Organ für ihre freie Entwicklung finden, weil sie ihrer
Natur nach mehr im Extensiven sind, und nun, indem
die Schranken, die die enge Capacität des Gedächtnisses
ihnen zog, gefallen waren, sich frei nach allen Nich-
tungen verbreiten konnten. So sind daher aus jenen
Sagen die meisten Volksbücher ausgegangen, indem
man sie, aufgenommen aus dem mündlichen Verkehr in
den Schriftlichen, in sich selbst erweiterte und vollendete:
nur Eines haben sie bei dieser Metamarphose eingebüßt;
die äußere poetische Form, die man als bloßes Hülfs-
mittel des Gedächtnisses jetzt unnütz geworden wähnte,
und daher mit der gemeinen Prosaischen verwechselte.
So gut nämlich wie der alten griechischen Sage von
der Einnahme Trojas ist es wenigen Späteren geworden,
daß sie nämlich einen Homer gefunden hätten, der
aus dem Munde der Nation sie übernehmend, während
er extensive zum großen Epos sie erweiterte, sie zugleich
auch in ihrer innern Form verklärte, und das große

an das Bild als an den Ton gebunden, und daher
Zauberſpiegeln gleich, in denen das Volk ſich und ſeine
Vergangenheit, und ſeine Zukunft, und die andere
Welt, und ſein innerſtes geheimſtes Gemüth, und Alles
was es ſich ſelbſt nicht nennen kann, deutlich und klar
ausgeſprochen vor ſich ſtehen ſieht; dieſe Gebilde mußten
vorzüglich in jenem äußeren Fixirenden ein glückliches
Organ für ihre freie Entwicklung finden, weil ſie ihrer
Natur nach mehr im Extenſiven ſind, und nun, indem
die Schranken, die die enge Capacität des Gedächtniſſes
ihnen zog, gefallen waren, ſich frei nach allen Nich-
tungen verbreiten konnten. So ſind daher aus jenen
Sagen die meiſten Volksbücher ausgegangen, indem
man ſie, aufgenommen aus dem mündlichen Verkehr in
den Schriftlichen, in ſich ſelbſt erweiterte und vollendete:
nur Eines haben ſie bei dieſer Metamarphoſe eingebüßt;
die äußere poetiſche Form, die man als bloßes Hülfs-
mittel des Gedächtniſſes jetzt unnütz geworden wähnte,
und daher mit der gemeinen Proſaiſchen verwechſelte.
So gut nämlich wie der alten griechiſchen Sage von
der Einnahme Trojas iſt es wenigen Späteren geworden,
daß ſie nämlich einen Homer gefunden hätten, der
aus dem Munde der Nation ſie übernehmend, während
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[18/0036] an das Bild als an den Ton gebunden, und daher Zauberſpiegeln gleich, in denen das Volk ſich und ſeine Vergangenheit, und ſeine Zukunft, und die andere Welt, und ſein innerſtes geheimſtes Gemüth, und Alles was es ſich ſelbſt nicht nennen kann, deutlich und klar ausgeſprochen vor ſich ſtehen ſieht; dieſe Gebilde mußten vorzüglich in jenem äußeren Fixirenden ein glückliches Organ für ihre freie Entwicklung finden, weil ſie ihrer Natur nach mehr im Extenſiven ſind, und nun, indem die Schranken, die die enge Capacität des Gedächtniſſes ihnen zog, gefallen waren, ſich frei nach allen Nich- tungen verbreiten konnten. So ſind daher aus jenen Sagen die meiſten Volksbücher ausgegangen, indem man ſie, aufgenommen aus dem mündlichen Verkehr in den Schriftlichen, in ſich ſelbſt erweiterte und vollendete: nur Eines haben ſie bei dieſer Metamarphoſe eingebüßt; die äußere poetiſche Form, die man als bloßes Hülfs- mittel des Gedächtniſſes jetzt unnütz geworden wähnte, und daher mit der gemeinen Proſaiſchen verwechſelte. So gut nämlich wie der alten griechiſchen Sage von der Einnahme Trojas iſt es wenigen Späteren geworden, daß ſie nämlich einen Homer gefunden hätten, der aus dem Munde der Nation ſie übernehmend, während er extenſive zum großen Epos ſie erweiterte, ſie zugleich auch in ihrer innern Form verklärte, und das große

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Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/36>, abgerufen am 05.05.2024.