Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807.

Bild:
<< vorherige Seite

Begeisterung erfuhr; wo Beyde noch nicht alltäglich sich
geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in
dieser Periode, wo der Geist noch keine Ansprüche auf
die Umgebung machte, sondern allein die Empfindung;
wo es daher nur eine Naturpoesie und keine Naturge-
schichte gab, mußten nothwendig in diesem lebendigen
Naturgefühle die vielfältig verschiedenen Traditionen
der mancherlei Nationen hervorgehen, die kein Lebloses
anerkannten, und überall ein Heldenleben, große gigan-
tische Kraft in allen Wesen sahen, überall nur großes,
heroisches Thun in allen Erscheinungen erblickten, und
die ganze Geschichte zur großen Legende machten.
Lebendig wandelten diese Gesänge mit den Liedern,
vom Ton beseelt, im Leben um; da aber, als die Er-
findung der Schreibkunst und später der Buchdruckerey
dem Ton das Bild unterschob, da wurde freilich das
Leben in ihnen matter, aber dafür in demselben Maaße
zäher, und was sie an innerer Intensität verlohren,
gewannen sie wenigstens an äußerer Extension wieder.
So wurden die Lieder in jenen fliegenden Blättern
fixirt, die sie wie auf Windes-Fittig durch alle Länder
trugen; und was im Munde des Volkes allmählig mehr
und mehr verstummte, das bewahrte das Blatt wenig-
stens für die Erinnerung auf. Jene andern Gesänge
aber, ihrer Natur nach mehr ruhend, bestimmt, mehr

3.

Begeiſterung erfuhr; wo Beyde noch nicht alltäglich ſich
geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in
dieſer Periode, wo der Geiſt noch keine Anſprüche auf
die Umgebung machte, ſondern allein die Empfindung;
wo es daher nur eine Naturpoeſie und keine Naturge-
ſchichte gab, mußten nothwendig in dieſem lebendigen
Naturgefühle die vielfältig verſchiedenen Traditionen
der mancherlei Nationen hervorgehen, die kein Lebloſes
anerkannten, und überall ein Heldenleben, große gigan-
tiſche Kraft in allen Weſen ſahen, überall nur großes,
heroiſches Thun in allen Erſcheinungen erblickten, und
die ganze Geſchichte zur großen Legende machten.
Lebendig wandelten dieſe Geſänge mit den Liedern,
vom Ton beſeelt, im Leben um; da aber, als die Er-
findung der Schreibkunſt und ſpäter der Buchdruckerey
dem Ton das Bild unterſchob, da wurde freilich das
Leben in ihnen matter, aber dafür in demſelben Maaße
zäher, und was ſie an innerer Intenſität verlohren,
gewannen ſie wenigſtens an äußerer Extenſion wieder.
So wurden die Lieder in jenen fliegenden Blättern
fixirt, die ſie wie auf Windes-Fittig durch alle Länder
trugen; und was im Munde des Volkes allmählig mehr
und mehr verſtummte, das bewahrte das Blatt wenig-
ſtens für die Erinnerung auf. Jene andern Geſänge
aber, ihrer Natur nach mehr ruhend, beſtimmt, mehr

3.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0035" n="17"/>
Begei&#x017F;terung erfuhr; wo Beyde noch nicht alltäglich &#x017F;ich<lb/>
geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in<lb/>
die&#x017F;er Periode, wo der Gei&#x017F;t noch keine An&#x017F;prüche auf<lb/>
die Umgebung machte, &#x017F;ondern allein die Empfindung;<lb/>
wo es daher nur eine Naturpoe&#x017F;ie und keine Naturge-<lb/>
&#x017F;chichte gab, mußten nothwendig in die&#x017F;em lebendigen<lb/>
Naturgefühle die vielfältig ver&#x017F;chiedenen Traditionen<lb/>
der mancherlei Nationen hervorgehen, die kein Leblo&#x017F;es<lb/>
anerkannten, und überall ein Heldenleben, große gigan-<lb/>
ti&#x017F;che Kraft in allen We&#x017F;en &#x017F;ahen, überall nur großes,<lb/>
heroi&#x017F;ches Thun in allen Er&#x017F;cheinungen erblickten, und<lb/>
die ganze Ge&#x017F;chichte zur großen Legende machten.<lb/>
Lebendig wandelten die&#x017F;e Ge&#x017F;änge mit den Liedern,<lb/>
vom Ton be&#x017F;eelt, im Leben um; da aber, als die Er-<lb/>
findung der Schreibkun&#x017F;t und &#x017F;päter der Buchdruckerey<lb/>
dem Ton das Bild unter&#x017F;chob, da wurde freilich das<lb/>
Leben in ihnen matter, aber dafür in dem&#x017F;elben Maaße<lb/>
zäher, und was &#x017F;ie an innerer Inten&#x017F;ität verlohren,<lb/>
gewannen &#x017F;ie wenig&#x017F;tens an äußerer Exten&#x017F;ion wieder.<lb/>
So wurden die Lieder in jenen fliegenden Blättern<lb/>
fixirt, die &#x017F;ie wie auf Windes-Fittig durch alle Länder<lb/>
trugen; und was im Munde des Volkes allmählig mehr<lb/>
und mehr ver&#x017F;tummte, das bewahrte das Blatt wenig-<lb/>
&#x017F;tens für die Erinnerung auf. Jene andern Ge&#x017F;änge<lb/>
aber, ihrer Natur nach mehr ruhend, be&#x017F;timmt, mehr<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">3.</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0035] Begeiſterung erfuhr; wo Beyde noch nicht alltäglich ſich geworden, Großes übten und Großes anerkannten: in dieſer Periode, wo der Geiſt noch keine Anſprüche auf die Umgebung machte, ſondern allein die Empfindung; wo es daher nur eine Naturpoeſie und keine Naturge- ſchichte gab, mußten nothwendig in dieſem lebendigen Naturgefühle die vielfältig verſchiedenen Traditionen der mancherlei Nationen hervorgehen, die kein Lebloſes anerkannten, und überall ein Heldenleben, große gigan- tiſche Kraft in allen Weſen ſahen, überall nur großes, heroiſches Thun in allen Erſcheinungen erblickten, und die ganze Geſchichte zur großen Legende machten. Lebendig wandelten dieſe Geſänge mit den Liedern, vom Ton beſeelt, im Leben um; da aber, als die Er- findung der Schreibkunſt und ſpäter der Buchdruckerey dem Ton das Bild unterſchob, da wurde freilich das Leben in ihnen matter, aber dafür in demſelben Maaße zäher, und was ſie an innerer Intenſität verlohren, gewannen ſie wenigſtens an äußerer Extenſion wieder. So wurden die Lieder in jenen fliegenden Blättern fixirt, die ſie wie auf Windes-Fittig durch alle Länder trugen; und was im Munde des Volkes allmählig mehr und mehr verſtummte, das bewahrte das Blatt wenig- ſtens für die Erinnerung auf. Jene andern Geſänge aber, ihrer Natur nach mehr ruhend, beſtimmt, mehr 3.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/35
Zitationshilfe: Görres, Joseph: Die teutschen Volksbücher. Heidelberg, 1807, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goerres_volksbuecher_1807/35>, abgerufen am 05.05.2024.