Buch der Betrachtungen erwei- tert sich jeden Tag demjenigen der im Orient hauset; denn alles ist dort Betrachtung, die zwischen dem Sinnlichen und Uebersinnli- chen hin und her wogt, ohne sich für eins oder das andere zu entscheiden. Dieses Nachdenken, wozu man aufgefordert wird, ist von ganz eigner Art; es widmet sich nicht allein der Klugheit, obgleich diese die stärksten Forderungen macht, sondern es wird zugleich auf jene Puncte geführt, wo die seltsamsten Probleme des Erde-Le- bens strack und unerbittlich vor uns stehen und uns nöthigen dem Zufall, einer Vor- sehung und ihren unerforschlichen Rath- schlüssen die Knie zu beugen und unbe- dingte Ergebung als höchstes politisch-sitt- lich-religionses Gesetz auszusprechen.
Buch des Unmuths. Wenn die übrigen Bücher anwachsen, so erlaubt man auch wohl diesem das gleiche Recht. Erst müssen sich anmuthige, liebevolle, verstän- dige Zuthaten versammlen, eh die Ausbrü- che des Unmuths erträglich seyn können. Allgemein menschliches Wohlwollen, nach- sichtiges hülfreiches Gefühl verbindet den
Buch der Betrachtungen erwei- tert sich jeden Tag demjenigen der im Orient hauset; denn alles ist dort Betrachtung, die zwischen dem Sinnlichen und Uebersinnli- chen hin und her wogt, ohne sich für eins oder das andere zu entscheiden. Dieses Nachdenken, wozu man aufgefordert wird, ist von ganz eigner Art; es widmet sich nicht allein der Klugheit, obgleich diese die stärksten Forderungen macht, sondern es wird zugleich auf jene Puncte geführt, wo die seltsamsten Probleme des Erde-Le- bens strack und unerbittlich vor uns stehen und uns nöthigen dem Zufall, einer Vor- sehung und ihren unerforschlichen Rath- schlüssen die Knie zu beugen und unbe- dingte Ergebung als höchstes politisch-sitt- lich-religionses Gesetz auszusprechen.
Buch des Unmuths. Wenn die übrigen Bücher anwachsen, so erlaubt man auch wohl diesem das gleiche Recht. Erst müssen sich anmuthige, liebevolle, verstän- dige Zuthaten versammlen, eh die Ausbrü- che des Unmuths erträglich seyn können. Allgemein menschliches Wohlwollen, nach- sichtiges hülfreiches Gefühl verbindet den
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[402[404]/0414]
Buch der Betrachtungen erwei-
tert sich jeden Tag demjenigen der im Orient
hauset; denn alles ist dort Betrachtung, die
zwischen dem Sinnlichen und Uebersinnli-
chen hin und her wogt, ohne sich für eins
oder das andere zu entscheiden. Dieses
Nachdenken, wozu man aufgefordert wird,
ist von ganz eigner Art; es widmet sich
nicht allein der Klugheit, obgleich diese
die stärksten Forderungen macht, sondern
es wird zugleich auf jene Puncte geführt,
wo die seltsamsten Probleme des Erde-Le-
bens strack und unerbittlich vor uns stehen
und uns nöthigen dem Zufall, einer Vor-
sehung und ihren unerforschlichen Rath-
schlüssen die Knie zu beugen und unbe-
dingte Ergebung als höchstes politisch-sitt-
lich-religionses Gesetz auszusprechen.
Buch des Unmuths. Wenn die
übrigen Bücher anwachsen, so erlaubt man
auch wohl diesem das gleiche Recht. Erst
müssen sich anmuthige, liebevolle, verstän-
dige Zuthaten versammlen, eh die Ausbrü-
che des Unmuths erträglich seyn können.
Allgemein menschliches Wohlwollen, nach-
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Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 402[404]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/414>, abgerufen am 22.12.2024.
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