Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819.

Bild:
<< vorherige Seite

neue und der unmuthige Volkswunsch nach
Rückkehr wird nur bänglicher, je weniger
ihr Führer sich gründlich zu helfen weiss.

Schon zeitig, ehe noch der Heereszug
an den Sinai gelangt, kommt Jethro sei-
nem Schwiegersohn entgegen, bringt ihm
Tochter und Enkel, die zur Zeit der Noth
im Vaterzelte verwahrt gewesen, und be-
weis't sich als einen klugen Mann. Ein
Volk wie die Midianiter, das frey seiner
Bestimmung nachgeht, und seine Kräfte in
Uebung zu setzen Gelegenheit findet, muss
gebildeter seyn als ein solches, das, unter
fremdem Joche, in ewigem Widerstreit mit
sich selbst und den Umständen lebt; und
wie viel höherer Ansichten musste ein Füh-
rer jenes Volkes fähig seyn, als ein trüb-
sinniger, in sich selbst verschlossener, recht-
schaffener Mann, der sich zwar zum Thun
und Herrschen geboren fühlt, dem aber
die Natur zu solchem gefährlichen Hand-
werke die Werkzeuge versagt hat.

Moses honnte sich zu dem Begriff nicht
erheben, dass ein Herrscher nicht überall
gegenwärtig seyn, nicht alles selbst thun
müsse; im Gegentheil machte er sich durch

neue und der unmuthige Volkswunsch nach
Rückkehr wird nur bänglicher, je weniger
ihr Führer sich gründlich zu helfen weiſs.

Schon zeitig, ehe noch der Heereszug
an den Sinai gelangt, kommt Jethro sei-
nem Schwiegersohn entgegen, bringt ihm
Tochter und Enkel, die zur Zeit der Noth
im Vaterzelte verwahrt gewesen, und be-
weis’t sich als einen klugen Mann. Ein
Volk wie die Midianiter, das frey seiner
Bestimmung nachgeht, und seine Kräfte in
Uebung zu setzen Gelegenheit findet, muſs
gebildeter seyn als ein solches, das, unter
fremdem Joche, in ewigem Widerstreit mit
sich selbst und den Umständen lebt; und
wie viel höherer Ansichten muſste ein Füh-
rer jenes Volkes fähig seyn, als ein trüb-
sinniger, in sich selbst verschlossener, recht-
schaffener Mann, der sich zwar zum Thun
und Herrschen geboren fühlt, dem aber
die Natur zu solchem gefährlichen Hand-
werke die Werkzeuge versagt hat.

Moses honnte sich zu dem Begriff nicht
erheben, daſs ein Herrscher nicht überall
gegenwärtig seyn, nicht alles selbst thun
müsse; im Gegentheil machte er sich durch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0448" n="436[438]"/>
neue und der unmuthige Volkswunsch nach<lb/>
Rückkehr wird nur bänglicher, je weniger<lb/>
ihr Führer sich gründlich zu helfen wei&#x017F;s.</p><lb/>
          <p>Schon zeitig, ehe noch der Heereszug<lb/>
an den Sinai gelangt, kommt Jethro sei-<lb/>
nem Schwiegersohn entgegen, bringt ihm<lb/>
Tochter und Enkel, die zur Zeit der Noth<lb/>
im Vaterzelte verwahrt gewesen, und be-<lb/>
weis&#x2019;t sich als einen klugen Mann. Ein<lb/>
Volk wie die Midianiter, das frey seiner<lb/>
Bestimmung nachgeht, und seine Kräfte in<lb/>
Uebung zu setzen Gelegenheit findet, mu&#x017F;s<lb/>
gebildeter seyn als ein solches, das, unter<lb/>
fremdem Joche, in ewigem Widerstreit mit<lb/>
sich selbst und den Umständen lebt; und<lb/>
wie viel höherer Ansichten mu&#x017F;ste ein Füh-<lb/>
rer jenes Volkes fähig seyn, als ein trüb-<lb/>
sinniger, in sich selbst verschlossener, recht-<lb/>
schaffener Mann, der sich zwar zum Thun<lb/>
und Herrschen geboren fühlt, dem aber<lb/>
die Natur zu solchem gefährlichen Hand-<lb/>
werke die Werkzeuge versagt hat.</p><lb/>
          <p>Moses honnte sich zu dem Begriff nicht<lb/>
erheben, da&#x017F;s ein Herrscher nicht überall<lb/>
gegenwärtig seyn, nicht alles selbst thun<lb/>
müsse; im Gegentheil machte er sich durch<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[436[438]/0448] neue und der unmuthige Volkswunsch nach Rückkehr wird nur bänglicher, je weniger ihr Führer sich gründlich zu helfen weiſs. Schon zeitig, ehe noch der Heereszug an den Sinai gelangt, kommt Jethro sei- nem Schwiegersohn entgegen, bringt ihm Tochter und Enkel, die zur Zeit der Noth im Vaterzelte verwahrt gewesen, und be- weis’t sich als einen klugen Mann. Ein Volk wie die Midianiter, das frey seiner Bestimmung nachgeht, und seine Kräfte in Uebung zu setzen Gelegenheit findet, muſs gebildeter seyn als ein solches, das, unter fremdem Joche, in ewigem Widerstreit mit sich selbst und den Umständen lebt; und wie viel höherer Ansichten muſste ein Füh- rer jenes Volkes fähig seyn, als ein trüb- sinniger, in sich selbst verschlossener, recht- schaffener Mann, der sich zwar zum Thun und Herrschen geboren fühlt, dem aber die Natur zu solchem gefährlichen Hand- werke die Werkzeuge versagt hat. Moses honnte sich zu dem Begriff nicht erheben, daſs ein Herrscher nicht überall gegenwärtig seyn, nicht alles selbst thun müsse; im Gegentheil machte er sich durch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/448
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: West-östlicher Divan. Stuttgart, 1819, S. 436[438]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_divan_1819/448>, abgerufen am 22.12.2024.