konnten also wieder vorzügliche Menschen auftreten, die ihr Zeitalter zu consequenteren Naturansichten em- porhoben und alle Wissens- und Fassenslustigen um sich versammelten.
Da er übrigens die Menschen an die Erfahrung hinwies, so geriethen die sich selbst überlassenen ins Weite, in eine gränzenlose Empirie; sie empfanden da- bey eine solche Methodenscheu, daß sie Unordnung und Wust als das wahre Element ansahen, in welchem das Wissen einzig gedeihen könne. Es sey uns erlaubt, nach unserer Art das Gesagte in einem Gleichniß zu wieder- hohlen.
Baco gleicht einem Manne, der die Unregelmäßig- keit, Unzulänglichkeit, Baufälligkeit eines alten Gebäu- des recht wohl einsieht, und solche den Bewohnern deutlich zu machen weiß. Er räth ihnen, es zu verlas- sen, Grund und Boden, Materialien und alles Zubehör zu verschmähen, einen andern Bauplatz zu suchen und ein neues Gebäude zu errichten. Er ist ein trefflicher Redner und Ueberreder; er rüttelt an einigen Mauern, sie fallen ein, und die Bewohner sind genöthigt, theil- weise auszuziehen. Er deutet auf neue Plätze; man fängt an zu ebnen, und doch ist es überall zu enge. Er legt neue Risse vor, sie sind nicht deutlich, nicht einladend. Hauptsächlich aber spricht er von neuen un- bekannten Materialien, und nun ist der Welt gedient. Die Menge zerstreut sich nach allen Himmelsgegenden und bringt unendlich Einzelnes zurück, indessen zu
konnten alſo wieder vorzuͤgliche Menſchen auftreten, die ihr Zeitalter zu conſequenteren Naturanſichten em- porhoben und alle Wiſſens- und Faſſensluſtigen um ſich verſammelten.
Da er uͤbrigens die Menſchen an die Erfahrung hinwies, ſo geriethen die ſich ſelbſt uͤberlaſſenen ins Weite, in eine graͤnzenloſe Empirie; ſie empfanden da- bey eine ſolche Methodenſcheu, daß ſie Unordnung und Wuſt als das wahre Element anſahen, in welchem das Wiſſen einzig gedeihen koͤnne. Es ſey uns erlaubt, nach unſerer Art das Geſagte in einem Gleichniß zu wieder- hohlen.
Baco gleicht einem Manne, der die Unregelmaͤßig- keit, Unzulaͤnglichkeit, Baufaͤlligkeit eines alten Gebaͤu- des recht wohl einſieht, und ſolche den Bewohnern deutlich zu machen weiß. Er raͤth ihnen, es zu verlaſ- ſen, Grund und Boden, Materialien und alles Zubehoͤr zu verſchmaͤhen, einen andern Bauplatz zu ſuchen und ein neues Gebaͤude zu errichten. Er iſt ein trefflicher Redner und Ueberreder; er ruͤttelt an einigen Mauern, ſie fallen ein, und die Bewohner ſind genoͤthigt, theil- weiſe auszuziehen. Er deutet auf neue Plaͤtze; man faͤngt an zu ebnen, und doch iſt es uͤberall zu enge. Er legt neue Riſſe vor, ſie ſind nicht deutlich, nicht einladend. Hauptſaͤchlich aber ſpricht er von neuen un- bekannten Materialien, und nun iſt der Welt gedient. Die Menge zerſtreut ſich nach allen Himmelsgegenden und bringt unendlich Einzelnes zuruͤck, indeſſen zu
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konnten alſo wieder vorzuͤgliche Menſchen auftreten,
die ihr Zeitalter zu conſequenteren Naturanſichten em-
porhoben und alle Wiſſens- und Faſſensluſtigen um ſich
verſammelten.
Da er uͤbrigens die Menſchen an die Erfahrung
hinwies, ſo geriethen die ſich ſelbſt uͤberlaſſenen ins
Weite, in eine graͤnzenloſe Empirie; ſie empfanden da-
bey eine ſolche Methodenſcheu, daß ſie Unordnung und
Wuſt als das wahre Element anſahen, in welchem das
Wiſſen einzig gedeihen koͤnne. Es ſey uns erlaubt, nach
unſerer Art das Geſagte in einem Gleichniß zu wieder-
hohlen.
Baco gleicht einem Manne, der die Unregelmaͤßig-
keit, Unzulaͤnglichkeit, Baufaͤlligkeit eines alten Gebaͤu-
des recht wohl einſieht, und ſolche den Bewohnern
deutlich zu machen weiß. Er raͤth ihnen, es zu verlaſ-
ſen, Grund und Boden, Materialien und alles Zubehoͤr
zu verſchmaͤhen, einen andern Bauplatz zu ſuchen und
ein neues Gebaͤude zu errichten. Er iſt ein trefflicher
Redner und Ueberreder; er ruͤttelt an einigen Mauern,
ſie fallen ein, und die Bewohner ſind genoͤthigt, theil-
weiſe auszuziehen. Er deutet auf neue Plaͤtze; man
faͤngt an zu ebnen, und doch iſt es uͤberall zu enge.
Er legt neue Riſſe vor, ſie ſind nicht deutlich, nicht
einladend. Hauptſaͤchlich aber ſpricht er von neuen un-
bekannten Materialien, und nun iſt der Welt gedient.
Die Menge zerſtreut ſich nach allen Himmelsgegenden
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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/262>, abgerufen am 25.11.2024.
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