Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

Bild:
<< vorherige Seite

konnten also wieder vorzügliche Menschen auftreten,
die ihr Zeitalter zu consequenteren Naturansichten em-
porhoben und alle Wissens- und Fassenslustigen um sich
versammelten.

Da er übrigens die Menschen an die Erfahrung
hinwies, so geriethen die sich selbst überlassenen ins
Weite, in eine gränzenlose Empirie; sie empfanden da-
bey eine solche Methodenscheu, daß sie Unordnung und
Wust als das wahre Element ansahen, in welchem das
Wissen einzig gedeihen könne. Es sey uns erlaubt, nach
unserer Art das Gesagte in einem Gleichniß zu wieder-
hohlen.

Baco gleicht einem Manne, der die Unregelmäßig-
keit, Unzulänglichkeit, Baufälligkeit eines alten Gebäu-
des recht wohl einsieht, und solche den Bewohnern
deutlich zu machen weiß. Er räth ihnen, es zu verlas-
sen, Grund und Boden, Materialien und alles Zubehör
zu verschmähen, einen andern Bauplatz zu suchen und
ein neues Gebäude zu errichten. Er ist ein trefflicher
Redner und Ueberreder; er rüttelt an einigen Mauern,
sie fallen ein, und die Bewohner sind genöthigt, theil-
weise auszuziehen. Er deutet auf neue Plätze; man
fängt an zu ebnen, und doch ist es überall zu enge.
Er legt neue Risse vor, sie sind nicht deutlich, nicht
einladend. Hauptsächlich aber spricht er von neuen un-
bekannten Materialien, und nun ist der Welt gedient.
Die Menge zerstreut sich nach allen Himmelsgegenden
und bringt unendlich Einzelnes zurück, indessen zu

konnten alſo wieder vorzuͤgliche Menſchen auftreten,
die ihr Zeitalter zu conſequenteren Naturanſichten em-
porhoben und alle Wiſſens- und Faſſensluſtigen um ſich
verſammelten.

Da er uͤbrigens die Menſchen an die Erfahrung
hinwies, ſo geriethen die ſich ſelbſt uͤberlaſſenen ins
Weite, in eine graͤnzenloſe Empirie; ſie empfanden da-
bey eine ſolche Methodenſcheu, daß ſie Unordnung und
Wuſt als das wahre Element anſahen, in welchem das
Wiſſen einzig gedeihen koͤnne. Es ſey uns erlaubt, nach
unſerer Art das Geſagte in einem Gleichniß zu wieder-
hohlen.

Baco gleicht einem Manne, der die Unregelmaͤßig-
keit, Unzulaͤnglichkeit, Baufaͤlligkeit eines alten Gebaͤu-
des recht wohl einſieht, und ſolche den Bewohnern
deutlich zu machen weiß. Er raͤth ihnen, es zu verlaſ-
ſen, Grund und Boden, Materialien und alles Zubehoͤr
zu verſchmaͤhen, einen andern Bauplatz zu ſuchen und
ein neues Gebaͤude zu errichten. Er iſt ein trefflicher
Redner und Ueberreder; er ruͤttelt an einigen Mauern,
ſie fallen ein, und die Bewohner ſind genoͤthigt, theil-
weiſe auszuziehen. Er deutet auf neue Plaͤtze; man
faͤngt an zu ebnen, und doch iſt es uͤberall zu enge.
Er legt neue Riſſe vor, ſie ſind nicht deutlich, nicht
einladend. Hauptſaͤchlich aber ſpricht er von neuen un-
bekannten Materialien, und nun iſt der Welt gedient.
Die Menge zerſtreut ſich nach allen Himmelsgegenden
und bringt unendlich Einzelnes zuruͤck, indeſſen zu

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0262" n="228"/>
konnten al&#x017F;o wieder vorzu&#x0364;gliche Men&#x017F;chen auftreten,<lb/>
die ihr Zeitalter zu con&#x017F;equenteren Naturan&#x017F;ichten em-<lb/>
porhoben und alle Wi&#x017F;&#x017F;ens- und Fa&#x017F;&#x017F;enslu&#x017F;tigen um &#x017F;ich<lb/>
ver&#x017F;ammelten.</p><lb/>
          <p>Da er u&#x0364;brigens die Men&#x017F;chen an die Erfahrung<lb/>
hinwies, &#x017F;o geriethen die &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t u&#x0364;berla&#x017F;&#x017F;enen ins<lb/>
Weite, in eine gra&#x0364;nzenlo&#x017F;e Empirie; &#x017F;ie empfanden da-<lb/>
bey eine &#x017F;olche Methoden&#x017F;cheu, daß &#x017F;ie Unordnung und<lb/>
Wu&#x017F;t als das wahre Element an&#x017F;ahen, in welchem das<lb/>
Wi&#x017F;&#x017F;en einzig gedeihen ko&#x0364;nne. Es &#x017F;ey uns erlaubt, nach<lb/>
un&#x017F;erer Art das Ge&#x017F;agte in einem Gleichniß zu wieder-<lb/>
hohlen.</p><lb/>
          <p>Baco gleicht einem Manne, der die Unregelma&#x0364;ßig-<lb/>
keit, Unzula&#x0364;nglichkeit, Baufa&#x0364;lligkeit eines alten Geba&#x0364;u-<lb/>
des recht wohl ein&#x017F;ieht, und &#x017F;olche den Bewohnern<lb/>
deutlich zu machen weiß. Er ra&#x0364;th ihnen, es zu verla&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, Grund und Boden, Materialien und alles Zubeho&#x0364;r<lb/>
zu ver&#x017F;chma&#x0364;hen, einen andern Bauplatz zu &#x017F;uchen und<lb/>
ein neues Geba&#x0364;ude zu errichten. Er i&#x017F;t ein trefflicher<lb/>
Redner und Ueberreder; er ru&#x0364;ttelt an einigen Mauern,<lb/>
&#x017F;ie fallen ein, und die Bewohner &#x017F;ind geno&#x0364;thigt, theil-<lb/>
wei&#x017F;e auszuziehen. Er deutet auf neue Pla&#x0364;tze; man<lb/>
fa&#x0364;ngt an zu ebnen, und doch i&#x017F;t es u&#x0364;berall zu enge.<lb/>
Er legt neue Ri&#x017F;&#x017F;e vor, &#x017F;ie &#x017F;ind nicht deutlich, nicht<lb/>
einladend. Haupt&#x017F;a&#x0364;chlich aber &#x017F;pricht er von neuen un-<lb/>
bekannten Materialien, und nun i&#x017F;t der Welt gedient.<lb/>
Die Menge zer&#x017F;treut &#x017F;ich nach allen Himmelsgegenden<lb/>
und bringt unendlich Einzelnes zuru&#x0364;ck, inde&#x017F;&#x017F;en zu<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[228/0262] konnten alſo wieder vorzuͤgliche Menſchen auftreten, die ihr Zeitalter zu conſequenteren Naturanſichten em- porhoben und alle Wiſſens- und Faſſensluſtigen um ſich verſammelten. Da er uͤbrigens die Menſchen an die Erfahrung hinwies, ſo geriethen die ſich ſelbſt uͤberlaſſenen ins Weite, in eine graͤnzenloſe Empirie; ſie empfanden da- bey eine ſolche Methodenſcheu, daß ſie Unordnung und Wuſt als das wahre Element anſahen, in welchem das Wiſſen einzig gedeihen koͤnne. Es ſey uns erlaubt, nach unſerer Art das Geſagte in einem Gleichniß zu wieder- hohlen. Baco gleicht einem Manne, der die Unregelmaͤßig- keit, Unzulaͤnglichkeit, Baufaͤlligkeit eines alten Gebaͤu- des recht wohl einſieht, und ſolche den Bewohnern deutlich zu machen weiß. Er raͤth ihnen, es zu verlaſ- ſen, Grund und Boden, Materialien und alles Zubehoͤr zu verſchmaͤhen, einen andern Bauplatz zu ſuchen und ein neues Gebaͤude zu errichten. Er iſt ein trefflicher Redner und Ueberreder; er ruͤttelt an einigen Mauern, ſie fallen ein, und die Bewohner ſind genoͤthigt, theil- weiſe auszuziehen. Er deutet auf neue Plaͤtze; man faͤngt an zu ebnen, und doch iſt es uͤberall zu enge. Er legt neue Riſſe vor, ſie ſind nicht deutlich, nicht einladend. Hauptſaͤchlich aber ſpricht er von neuen un- bekannten Materialien, und nun iſt der Welt gedient. Die Menge zerſtreut ſich nach allen Himmelsgegenden und bringt unendlich Einzelnes zuruͤck, indeſſen zu

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/262
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/262>, abgerufen am 25.11.2024.