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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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Welt ab. Die Untersuchung der Natur durch Experi-
mente, die mathematische oder philosophische Behand-
lung des Erfahrenen, erforderte Ruhe und Stille, und
weder die Breite noch die Tiefe der Erscheinung sind
geeignet vor die Versammlung gebracht zu werden, die
man gewöhnlich Societät nennt. Ja manches Ab-
stracte, Abstruse läßt sich in die gewöhnliche Sprache
nicht übersetzen. Aber dem lebhaften, geselligen, mund-
fertigen Franzosen schien nichts zu schwer, und gedrängt
durch die Nöthigung einer großen gebildeten Masse
unternahm er eben Himmel und Erde mit allen ihren
Geheimnissen zu vulgarisiren.

Ein Werk dieser Art ist Fontenelle's Schrift über
die Mehrheit der Welten. Seitdem die Erde im Co-
pernicanischen System auf einem subalternen Platz er-
schien, so traten vor allen Dingen die übrigen Plane-
ten in gleiche Rechte. Die Erde war bewachsen und
bewohnt, alle Climaten brachten nach ihren Bedin-
gungen und Eigenheiten eigene Geschöpfe hervor, und
die Folgerung lag ganz nahe, daß die ähnlichen Ge-
stirne, und vielleicht auch gar die unähnlichen, ebenfalls
mit Leben übersät und beglückt seyn müßten. Was die
Erde an ihrem hohen Rang verloren, ward ihr gleich-
sam hier durch Gesellschaft ersetzt, und für Menschen
die sich gern mittheilen, war es ein angenehmer Ge-
danke, früher oder später einen Besuch auf den umlie-
genden Welten abzustatten. Fontenelle's Werk fand
großen Beyfall und wirkte viel, indem es außer
dem Hauptgedanken noch manches andere, den Welt-

II. 32

Welt ab. Die Unterſuchung der Natur durch Experi-
mente, die mathematiſche oder philoſophiſche Behand-
lung des Erfahrenen, erforderte Ruhe und Stille, und
weder die Breite noch die Tiefe der Erſcheinung ſind
geeignet vor die Verſammlung gebracht zu werden, die
man gewoͤhnlich Societaͤt nennt. Ja manches Ab-
ſtracte, Abſtruſe laͤßt ſich in die gewoͤhnliche Sprache
nicht uͤberſetzen. Aber dem lebhaften, geſelligen, mund-
fertigen Franzoſen ſchien nichts zu ſchwer, und gedraͤngt
durch die Noͤthigung einer großen gebildeten Maſſe
unternahm er eben Himmel und Erde mit allen ihren
Geheimniſſen zu vulgariſiren.

Ein Werk dieſer Art iſt Fontenelle’s Schrift uͤber
die Mehrheit der Welten. Seitdem die Erde im Co-
pernicaniſchen Syſtem auf einem ſubalternen Platz er-
ſchien, ſo traten vor allen Dingen die uͤbrigen Plane-
ten in gleiche Rechte. Die Erde war bewachſen und
bewohnt, alle Climaten brachten nach ihren Bedin-
gungen und Eigenheiten eigene Geſchoͤpfe hervor, und
die Folgerung lag ganz nahe, daß die aͤhnlichen Ge-
ſtirne, und vielleicht auch gar die unaͤhnlichen, ebenfalls
mit Leben uͤberſaͤt und begluͤckt ſeyn muͤßten. Was die
Erde an ihrem hohen Rang verloren, ward ihr gleich-
ſam hier durch Geſellſchaft erſetzt, und fuͤr Menſchen
die ſich gern mittheilen, war es ein angenehmer Ge-
danke, fruͤher oder ſpaͤter einen Beſuch auf den umlie-
genden Welten abzuſtatten. Fontenelle’s Werk fand
großen Beyfall und wirkte viel, indem es außer
dem Hauptgedanken noch manches andere, den Welt-

II. 32
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[497/0531] Welt ab. Die Unterſuchung der Natur durch Experi- mente, die mathematiſche oder philoſophiſche Behand- lung des Erfahrenen, erforderte Ruhe und Stille, und weder die Breite noch die Tiefe der Erſcheinung ſind geeignet vor die Verſammlung gebracht zu werden, die man gewoͤhnlich Societaͤt nennt. Ja manches Ab- ſtracte, Abſtruſe laͤßt ſich in die gewoͤhnliche Sprache nicht uͤberſetzen. Aber dem lebhaften, geſelligen, mund- fertigen Franzoſen ſchien nichts zu ſchwer, und gedraͤngt durch die Noͤthigung einer großen gebildeten Maſſe unternahm er eben Himmel und Erde mit allen ihren Geheimniſſen zu vulgariſiren. Ein Werk dieſer Art iſt Fontenelle’s Schrift uͤber die Mehrheit der Welten. Seitdem die Erde im Co- pernicaniſchen Syſtem auf einem ſubalternen Platz er- ſchien, ſo traten vor allen Dingen die uͤbrigen Plane- ten in gleiche Rechte. Die Erde war bewachſen und bewohnt, alle Climaten brachten nach ihren Bedin- gungen und Eigenheiten eigene Geſchoͤpfe hervor, und die Folgerung lag ganz nahe, daß die aͤhnlichen Ge- ſtirne, und vielleicht auch gar die unaͤhnlichen, ebenfalls mit Leben uͤberſaͤt und begluͤckt ſeyn muͤßten. Was die Erde an ihrem hohen Rang verloren, ward ihr gleich- ſam hier durch Geſellſchaft erſetzt, und fuͤr Menſchen die ſich gern mittheilen, war es ein angenehmer Ge- danke, fruͤher oder ſpaͤter einen Beſuch auf den umlie- genden Welten abzuſtatten. Fontenelle’s Werk fand großen Beyfall und wirkte viel, indem es außer dem Hauptgedanken noch manches andere, den Welt- II. 32

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/531>, abgerufen am 22.11.2024.