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Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810.

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des, der sowohl bey wiederholter Reise nach Italien,
als auch sonst bey anhaltender Betrachtung von Gemäl-
den, die Geschichte des Colorits zum vorzüglichen Au-
genmerk behielt und dieselbige entwarf, wie wir sie in
zwey Abtheilungen unsern Lesern vorgelegt haben: die
ältere, welche hypothetisch genannt wird, weil sie,
ohne genugsame Beyspiele, mehr aus der Natur des
Menschen und der Kunst, als aus der Erfahrung zu
entwickeln war; die neuere, welche auf Documenten
beruht, die noch von Jedermann betrachtet und beur-
theilt werden können.

Indem ich mich nun auf diese Weise dem Ende
meines aufrichtigen Bekenntnisses nähere; so werde ich
durch einen Vorwurf angehalten, den ich mir mache,
daß ich unter jenen vortrefflichen Männern, die mich
geistig gefördert, meinen unersetzlichen Schiller nicht
genannt habe. Dort aber empfand ich eine Art von
Scheu, dem besonderen Denkmal, welches ich unserer
Freundschaft schuldig bin, durch ein voreiliges Gedenken,
Abbruch zu thun. Nun will ich aber doch in Betrach-
tung menschlicher Zufälligkeiten, aufs kürzeste bekennen,
wie er an meinem Bestreben lebhaften Antheil genommen,
sich mit den Phänomenen bekannt zu machen gesucht, ja
sogar mit einigen Vorrichtungen umgeben, um sich an
denselben vergnüglich zu belehren. Durch die große
Natürlichkeit seines Genies ergriff er nicht nur schnell
die Hauptpunkte worauf es ankam; sondern wenn ich
manchmal auf meinem beschaulichen Wege zögerte, nö-
thigte er mich durch seine reflectirende Kraft vorwärts

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des, der ſowohl bey wiederholter Reiſe nach Italien,
als auch ſonſt bey anhaltender Betrachtung von Gemaͤl-
den, die Geſchichte des Colorits zum vorzuͤglichen Au-
genmerk behielt und dieſelbige entwarf, wie wir ſie in
zwey Abtheilungen unſern Leſern vorgelegt haben: die
aͤltere, welche hypothetiſch genannt wird, weil ſie,
ohne genugſame Beyſpiele, mehr aus der Natur des
Menſchen und der Kunſt, als aus der Erfahrung zu
entwickeln war; die neuere, welche auf Documenten
beruht, die noch von Jedermann betrachtet und beur-
theilt werden koͤnnen.

Indem ich mich nun auf dieſe Weiſe dem Ende
meines aufrichtigen Bekenntniſſes naͤhere; ſo werde ich
durch einen Vorwurf angehalten, den ich mir mache,
daß ich unter jenen vortrefflichen Maͤnnern, die mich
geiſtig gefoͤrdert, meinen unerſetzlichen Schiller nicht
genannt habe. Dort aber empfand ich eine Art von
Scheu, dem beſonderen Denkmal, welches ich unſerer
Freundſchaft ſchuldig bin, durch ein voreiliges Gedenken,
Abbruch zu thun. Nun will ich aber doch in Betrach-
tung menſchlicher Zufaͤlligkeiten, aufs kuͤrzeſte bekennen,
wie er an meinem Beſtreben lebhaften Antheil genommen,
ſich mit den Phaͤnomenen bekannt zu machen geſucht, ja
ſogar mit einigen Vorrichtungen umgeben, um ſich an
denſelben vergnuͤglich zu belehren. Durch die große
Natuͤrlichkeit ſeines Genies ergriff er nicht nur ſchnell
die Hauptpunkte worauf es ankam; ſondern wenn ich
manchmal auf meinem beſchaulichen Wege zoͤgerte, noͤ-
thigte er mich durch ſeine reflectirende Kraft vorwaͤrts

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[691/0725] des, der ſowohl bey wiederholter Reiſe nach Italien, als auch ſonſt bey anhaltender Betrachtung von Gemaͤl- den, die Geſchichte des Colorits zum vorzuͤglichen Au- genmerk behielt und dieſelbige entwarf, wie wir ſie in zwey Abtheilungen unſern Leſern vorgelegt haben: die aͤltere, welche hypothetiſch genannt wird, weil ſie, ohne genugſame Beyſpiele, mehr aus der Natur des Menſchen und der Kunſt, als aus der Erfahrung zu entwickeln war; die neuere, welche auf Documenten beruht, die noch von Jedermann betrachtet und beur- theilt werden koͤnnen. Indem ich mich nun auf dieſe Weiſe dem Ende meines aufrichtigen Bekenntniſſes naͤhere; ſo werde ich durch einen Vorwurf angehalten, den ich mir mache, daß ich unter jenen vortrefflichen Maͤnnern, die mich geiſtig gefoͤrdert, meinen unerſetzlichen Schiller nicht genannt habe. Dort aber empfand ich eine Art von Scheu, dem beſonderen Denkmal, welches ich unſerer Freundſchaft ſchuldig bin, durch ein voreiliges Gedenken, Abbruch zu thun. Nun will ich aber doch in Betrach- tung menſchlicher Zufaͤlligkeiten, aufs kuͤrzeſte bekennen, wie er an meinem Beſtreben lebhaften Antheil genommen, ſich mit den Phaͤnomenen bekannt zu machen geſucht, ja ſogar mit einigen Vorrichtungen umgeben, um ſich an denſelben vergnuͤglich zu belehren. Durch die große Natuͤrlichkeit ſeines Genies ergriff er nicht nur ſchnell die Hauptpunkte worauf es ankam; ſondern wenn ich manchmal auf meinem beſchaulichen Wege zoͤgerte, noͤ- thigte er mich durch ſeine reflectirende Kraft vorwaͤrts 44 *

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Zur Farbenlehre. Bd. 2. Tübingen, 1810, S. 691. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_farbenlehre02_1810/725>, abgerufen am 22.11.2024.