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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811.

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nen, alle und jede Gebote eben so blindlings
befolgen, als sie ohne zu zweifeln die späten
Erfüllungen seiner Verheißungen abzuwarten
nicht ermüden.

So wie eine besondere, geoffenbarte Reli¬
gion den Begriff zum Grunde legt, daß einer
mehr von den Göttern begünstigt seyn könne
als der andre, so entspringt sie auch vorzüg¬
lich aus der Absonderung der Zustände. Nahe
verwandt schienen sich die ersten Menschen,
aber ihre Beschäftigungen trennten sie bald.
Der Jäger war der freyeste von allen; aus
ihm entwickelte sich der Krieger und der Herr¬
scher. Der Theil der den Acker baute, sich
der Erde verschrieb, Wohnungen und Scheu¬
ern aufführte, um das Erworbene zu erhal¬
ten, konnte sich schon etwas dünken, weil
sein Zustand Dauer und Sicherheit versprach.
Dem Hirten an seiner Stelle schien der unge¬
messenste Zustand so wie ein gränzenloser
Besitz zu Theil geworden. Die Vermehrung

nen, alle und jede Gebote eben ſo blindlings
befolgen, als ſie ohne zu zweifeln die ſpaͤten
Erfuͤllungen ſeiner Verheißungen abzuwarten
nicht ermuͤden.

So wie eine beſondere, geoffenbarte Reli¬
gion den Begriff zum Grunde legt, daß einer
mehr von den Goͤttern beguͤnſtigt ſeyn koͤnne
als der andre, ſo entſpringt ſie auch vorzuͤg¬
lich aus der Abſonderung der Zuſtaͤnde. Nahe
verwandt ſchienen ſich die erſten Menſchen,
aber ihre Beſchaͤftigungen trennten ſie bald.
Der Jaͤger war der freyeſte von allen; aus
ihm entwickelte ſich der Krieger und der Herr¬
ſcher. Der Theil der den Acker baute, ſich
der Erde verſchrieb, Wohnungen und Scheu¬
ern auffuͤhrte, um das Erworbene zu erhal¬
ten, konnte ſich ſchon etwas duͤnken, weil
ſein Zuſtand Dauer und Sicherheit verſprach.
Dem Hirten an ſeiner Stelle ſchien der unge¬
meſſenſte Zuſtand ſo wie ein graͤnzenloſer
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[314/0330] nen, alle und jede Gebote eben ſo blindlings befolgen, als ſie ohne zu zweifeln die ſpaͤten Erfuͤllungen ſeiner Verheißungen abzuwarten nicht ermuͤden. So wie eine beſondere, geoffenbarte Reli¬ gion den Begriff zum Grunde legt, daß einer mehr von den Goͤttern beguͤnſtigt ſeyn koͤnne als der andre, ſo entſpringt ſie auch vorzuͤg¬ lich aus der Abſonderung der Zuſtaͤnde. Nahe verwandt ſchienen ſich die erſten Menſchen, aber ihre Beſchaͤftigungen trennten ſie bald. Der Jaͤger war der freyeſte von allen; aus ihm entwickelte ſich der Krieger und der Herr¬ ſcher. Der Theil der den Acker baute, ſich der Erde verſchrieb, Wohnungen und Scheu¬ ern auffuͤhrte, um das Erworbene zu erhal¬ ten, konnte ſich ſchon etwas duͤnken, weil ſein Zuſtand Dauer und Sicherheit verſprach. Dem Hirten an ſeiner Stelle ſchien der unge¬ meſſenſte Zuſtand ſo wie ein graͤnzenloſer Beſitz zu Theil geworden. Die Vermehrung

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 1. Tübingen, 1811, S. 314. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben01_1811/330>, abgerufen am 27.11.2024.