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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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an. Einst hatte ich ihn auch sehr schön und ge¬
nau in die glatte Rinde eines Lindenbaums
von mäßigem Alter geschnitten. Den Herbst
darauf, als meine Neigung zu Annetten in ih¬
rer besten Blüthe war, gab ich mir die Mühe,
den ihrigen oben darüber zu schneiden. Indes¬
sen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein
launischer Liebender, manche Gelegenheit vom
Zaune gebrochen, um sie zu quälen und ihr
Verdruß zu machen; Frühjahrs besuchte ich zu¬
fällig die Stelle, und der Saft, der mächtig
in die Bäume trat, war durch die Einschnitte,
die ihren Namen bezeichneten, und die noch
nicht verharscht waren, hervorgequollen und
benetzte mit unschuldigen Pflanzenthränen die
schon hart gewordenen Züge des meinigen.
Sie also hier über mich weinen zu sehen, der
ich oft ihre Thränen durch meine Unarten her¬
vorgerufen hatte, setzte mich in Bestürzung.
In Erinnerung meines Unrechts und ihrer Lie¬
be kamen mir selbst die Thränen in die Au¬
gen, ich eilte, ihr alles doppelt und dreyfach

an. Einſt hatte ich ihn auch ſehr ſchoͤn und ge¬
nau in die glatte Rinde eines Lindenbaums
von maͤßigem Alter geſchnitten. Den Herbſt
darauf, als meine Neigung zu Annetten in ih¬
rer beſten Bluͤthe war, gab ich mir die Muͤhe,
den ihrigen oben daruͤber zu ſchneiden. Indeſ¬
ſen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein
launiſcher Liebender, manche Gelegenheit vom
Zaune gebrochen, um ſie zu quaͤlen und ihr
Verdruß zu machen; Fruͤhjahrs beſuchte ich zu¬
faͤllig die Stelle, und der Saft, der maͤchtig
in die Baͤume trat, war durch die Einſchnitte,
die ihren Namen bezeichneten, und die noch
nicht verharſcht waren, hervorgequollen und
benetzte mit unſchuldigen Pflanzenthraͤnen die
ſchon hart gewordenen Zuͤge des meinigen.
Sie alſo hier uͤber mich weinen zu ſehen, der
ich oft ihre Thraͤnen durch meine Unarten her¬
vorgerufen hatte, ſetzte mich in Beſtuͤrzung.
In Erinnerung meines Unrechts und ihrer Lie¬
be kamen mir ſelbſt die Thraͤnen in die Au¬
gen, ich eilte, ihr alles doppelt und dreyfach

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[156/0164] an. Einſt hatte ich ihn auch ſehr ſchoͤn und ge¬ nau in die glatte Rinde eines Lindenbaums von maͤßigem Alter geſchnitten. Den Herbſt darauf, als meine Neigung zu Annetten in ih¬ rer beſten Bluͤthe war, gab ich mir die Muͤhe, den ihrigen oben daruͤber zu ſchneiden. Indeſ¬ ſen hatte ich gegen Ende des Winters, als ein launiſcher Liebender, manche Gelegenheit vom Zaune gebrochen, um ſie zu quaͤlen und ihr Verdruß zu machen; Fruͤhjahrs beſuchte ich zu¬ faͤllig die Stelle, und der Saft, der maͤchtig in die Baͤume trat, war durch die Einſchnitte, die ihren Namen bezeichneten, und die noch nicht verharſcht waren, hervorgequollen und benetzte mit unſchuldigen Pflanzenthraͤnen die ſchon hart gewordenen Zuͤge des meinigen. Sie alſo hier uͤber mich weinen zu ſehen, der ich oft ihre Thraͤnen durch meine Unarten her¬ vorgerufen hatte, ſetzte mich in Beſtuͤrzung. In Erinnerung meines Unrechts und ihrer Lie¬ be kamen mir ſelbſt die Thraͤnen in die Au¬ gen, ich eilte, ihr alles doppelt und dreyfach

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/164>, abgerufen am 13.05.2024.