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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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schah nicht und konnte nicht geschehen: denn
wie kann man von einem König, der geistig
leben und genießen will, verlangen, daß er
seine Jahre verliere, um das, was er für bar¬
barisch hält, nur allzuspät entwickelt und ge¬
nießbar zu sehen? In Handwerks- und Fa¬
briksachen mochte er wohl sich, besonders aber
seinem Volke, statt fremder vortrefflicher Waa¬
ren, sehr mäßige Surrogate aufnöthigen; aber
hier geht alles geschwinder zur Vollkommen¬
heit, und es braucht kein Menschenleben, um
solche Dinge zur Reife zu bringen.

Eines Werks aber, der wahrsten Ausge¬
burt des siebenjährigen Krieges, von vollkom¬
menem norddeutschen Nationalgehalt muß ich
hier vor allen ehrenvoll erwähnen; es ist die
erste, aus dem bedeutenden Leben gegriffene
Theaterproduction, von specifisch temporärem
Gehalt die deswegen auch eine nie zu berech¬
nende Wirkung that, Minna von Barn¬
helm
. Lessing, der, im Gegensatze von

II. 11

ſchah nicht und konnte nicht geſchehen: denn
wie kann man von einem Koͤnig, der geiſtig
leben und genießen will, verlangen, daß er
ſeine Jahre verliere, um das, was er fuͤr bar¬
bariſch haͤlt, nur allzuſpaͤt entwickelt und ge¬
nießbar zu ſehen? In Handwerks- und Fa¬
brikſachen mochte er wohl ſich, beſonders aber
ſeinem Volke, ſtatt fremder vortrefflicher Waa¬
ren, ſehr maͤßige Surrogate aufnoͤthigen; aber
hier geht alles geſchwinder zur Vollkommen¬
heit, und es braucht kein Menſchenleben, um
ſolche Dinge zur Reife zu bringen.

Eines Werks aber, der wahrſten Ausge¬
burt des ſiebenjaͤhrigen Krieges, von vollkom¬
menem norddeutſchen Nationalgehalt muß ich
hier vor allen ehrenvoll erwaͤhnen; es iſt die
erſte, aus dem bedeutenden Leben gegriffene
Theaterproduction, von ſpecifiſch temporaͤrem
Gehalt die deswegen auch eine nie zu berech¬
nende Wirkung that, Minna von Barn¬
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[161/0169] ſchah nicht und konnte nicht geſchehen: denn wie kann man von einem Koͤnig, der geiſtig leben und genießen will, verlangen, daß er ſeine Jahre verliere, um das, was er fuͤr bar¬ bariſch haͤlt, nur allzuſpaͤt entwickelt und ge¬ nießbar zu ſehen? In Handwerks- und Fa¬ brikſachen mochte er wohl ſich, beſonders aber ſeinem Volke, ſtatt fremder vortrefflicher Waa¬ ren, ſehr maͤßige Surrogate aufnoͤthigen; aber hier geht alles geſchwinder zur Vollkommen¬ heit, und es braucht kein Menſchenleben, um ſolche Dinge zur Reife zu bringen. Eines Werks aber, der wahrſten Ausge¬ burt des ſiebenjaͤhrigen Krieges, von vollkom¬ menem norddeutſchen Nationalgehalt muß ich hier vor allen ehrenvoll erwaͤhnen; es iſt die erſte, aus dem bedeutenden Leben gegriffene Theaterproduction, von ſpecifiſch temporaͤrem Gehalt die deswegen auch eine nie zu berech¬ nende Wirkung that, Minna von Barn¬ helm. Leſſing, der, im Gegenſatze von II. 11

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 161. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/169>, abgerufen am 12.05.2024.