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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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Rasen, welches ich nun für höchst kindisch
ansah. Ein großer Schritt zur Besserung!
Denn ich hatte oft halbe Nächte durch mich mit
dem größten Ungestüm diesen Schmerzen über¬
lassen, so daß es durch Thränen und Schluch¬
zen zuletzt dahin kam, daß ich kaum mehr
schlingen konnte und der Genuß von Speise
und Trank mir schmerzlich ward, auch die
so nah verwandte Brust zu leiden schien.
Der Verdruß, den ich über jene Entdeckung
immer fort empfand, ließ mich jede Weich¬
lichkeit verbannen; ich fand es schrecklich, daß
ich um eines Mädchens willen Schlaf und
Ruhe und Gesundheit aufgeopfert hatte, die
sich darin gefiel, mich als einen Säugling zu
betrachten und sich höchst ammenhaft weise
gegen mich zu dünken.

Diese kränkenden Vorstellungen waren,
wie ich mich leicht überzeugte, nur durch Thä¬
tigkeit zu verbannen; aber was sollte ich er¬
greifen? Ich hatte in gar vielen Dingen frey¬

Raſen, welches ich nun fuͤr hoͤchſt kindiſch
anſah. Ein großer Schritt zur Beſſerung!
Denn ich hatte oft halbe Naͤchte durch mich mit
dem groͤßten Ungeſtuͤm dieſen Schmerzen uͤber¬
laſſen, ſo daß es durch Thraͤnen und Schluch¬
zen zuletzt dahin kam, daß ich kaum mehr
ſchlingen konnte und der Genuß von Speiſe
und Trank mir ſchmerzlich ward, auch die
ſo nah verwandte Bruſt zu leiden ſchien.
Der Verdruß, den ich uͤber jene Entdeckung
immer fort empfand, ließ mich jede Weich¬
lichkeit verbannen; ich fand es ſchrecklich, daß
ich um eines Maͤdchens willen Schlaf und
Ruhe und Geſundheit aufgeopfert hatte, die
ſich darin gefiel, mich als einen Saͤugling zu
betrachten und ſich hoͤchſt ammenhaft weiſe
gegen mich zu duͤnken.

Dieſe kraͤnkenden Vorſtellungen waren,
wie ich mich leicht uͤberzeugte, nur durch Thaͤ¬
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[10/0018] Raſen, welches ich nun fuͤr hoͤchſt kindiſch anſah. Ein großer Schritt zur Beſſerung! Denn ich hatte oft halbe Naͤchte durch mich mit dem groͤßten Ungeſtuͤm dieſen Schmerzen uͤber¬ laſſen, ſo daß es durch Thraͤnen und Schluch¬ zen zuletzt dahin kam, daß ich kaum mehr ſchlingen konnte und der Genuß von Speiſe und Trank mir ſchmerzlich ward, auch die ſo nah verwandte Bruſt zu leiden ſchien. Der Verdruß, den ich uͤber jene Entdeckung immer fort empfand, ließ mich jede Weich¬ lichkeit verbannen; ich fand es ſchrecklich, daß ich um eines Maͤdchens willen Schlaf und Ruhe und Geſundheit aufgeopfert hatte, die ſich darin gefiel, mich als einen Saͤugling zu betrachten und ſich hoͤchſt ammenhaft weiſe gegen mich zu duͤnken. Dieſe kraͤnkenden Vorſtellungen waren, wie ich mich leicht uͤberzeugte, nur durch Thaͤ¬ tigkeit zu verbannen; aber was ſollte ich er¬ greifen? Ich hatte in gar vielen Dingen frey¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/18>, abgerufen am 28.04.2024.