Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

mich scherzend versicherte, ich erweise mich wie
ein wahrer Deutscher. Umständlich erzählte
er mir aus dem Tacitus, wie sich unsere Ur¬
väter an den Gefühlen begnügt, welche uns
die Natur in solchen Einsamkeiten mit unge¬
künstelter Bauart so herrlich vorbereitet. Er
hatte mir nicht lange davon erzählt, als ich
ausrief: O! warum liegt dieser köstliche Platz
nicht in tiefer Wildniß, warum dürfen wir
nicht einen Zaun umher führen, ihn und uns
zu heiligen und von der Welt abzusondern!
Gewiß es ist keine schönere Gottesverehrung
als die, zu der man kein Bild bedarf, die
bloß aus dem Wechselgespräch mit der Natur
in unserem Busen entspringt! -- Was ich
damals fühlte, ist mir noch gegenwärtig; was
ich sagte, wüßte ich nicht wieder zu finden.
Soviel ist aber gewiß, daß die unbestimm¬
ten, sich weit ausdehnenden Gefühle der
Jugend und ungebildeter Völker allein zum
Erhabenen geeignet sind, das, wenn es durch
äußere Dinge in uns erregt werden soll, form¬

II. 2

mich ſcherzend verſicherte, ich erweiſe mich wie
ein wahrer Deutſcher. Umſtaͤndlich erzaͤhlte
er mir aus dem Tacitus, wie ſich unſere Ur¬
vaͤter an den Gefuͤhlen begnuͤgt, welche uns
die Natur in ſolchen Einſamkeiten mit unge¬
kuͤnſtelter Bauart ſo herrlich vorbereitet. Er
hatte mir nicht lange davon erzaͤhlt, als ich
ausrief: O! warum liegt dieſer koͤſtliche Platz
nicht in tiefer Wildniß, warum duͤrfen wir
nicht einen Zaun umher fuͤhren, ihn und uns
zu heiligen und von der Welt abzuſondern!
Gewiß es iſt keine ſchoͤnere Gottesverehrung
als die, zu der man kein Bild bedarf, die
bloß aus dem Wechſelgeſpraͤch mit der Natur
in unſerem Buſen entſpringt! — Was ich
damals fuͤhlte, iſt mir noch gegenwaͤrtig; was
ich ſagte, wuͤßte ich nicht wieder zu finden.
Soviel iſt aber gewiß, daß die unbeſtimm¬
ten, ſich weit ausdehnenden Gefuͤhle der
Jugend und ungebildeter Voͤlker allein zum
Erhabenen geeignet ſind, das, wenn es durch
aͤußere Dinge in uns erregt werden ſoll, form¬

II. 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025" n="17"/>
mich &#x017F;cherzend ver&#x017F;icherte, ich erwei&#x017F;e mich wie<lb/>
ein wahrer Deut&#x017F;cher. Um&#x017F;ta&#x0364;ndlich erza&#x0364;hlte<lb/>
er mir aus dem Tacitus, wie &#x017F;ich un&#x017F;ere Ur¬<lb/>
va&#x0364;ter an den Gefu&#x0364;hlen begnu&#x0364;gt, welche uns<lb/>
die Natur in &#x017F;olchen Ein&#x017F;amkeiten mit unge¬<lb/>
ku&#x0364;n&#x017F;telter Bauart &#x017F;o herrlich vorbereitet. Er<lb/>
hatte mir nicht lange davon erza&#x0364;hlt, als ich<lb/>
ausrief: O! warum liegt die&#x017F;er ko&#x0364;&#x017F;tliche Platz<lb/>
nicht in tiefer Wildniß, warum du&#x0364;rfen wir<lb/>
nicht einen Zaun umher fu&#x0364;hren, ihn und uns<lb/>
zu heiligen und von der Welt abzu&#x017F;ondern!<lb/>
Gewiß es i&#x017F;t keine &#x017F;cho&#x0364;nere Gottesverehrung<lb/>
als die, zu der man kein Bild bedarf, die<lb/>
bloß aus dem Wech&#x017F;elge&#x017F;pra&#x0364;ch mit der Natur<lb/>
in un&#x017F;erem Bu&#x017F;en ent&#x017F;pringt! &#x2014; Was ich<lb/>
damals fu&#x0364;hlte, i&#x017F;t mir noch gegenwa&#x0364;rtig; was<lb/>
ich &#x017F;agte, wu&#x0364;ßte ich nicht wieder zu finden.<lb/>
Soviel i&#x017F;t aber gewiß, daß die unbe&#x017F;timm¬<lb/>
ten, &#x017F;ich weit ausdehnenden Gefu&#x0364;hle der<lb/>
Jugend und ungebildeter Vo&#x0364;lker allein zum<lb/>
Erhabenen geeignet &#x017F;ind, das, wenn es durch<lb/>
a&#x0364;ußere Dinge in uns erregt werden &#x017F;oll, form¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">II. 2<lb/></fw>
</p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[17/0025] mich ſcherzend verſicherte, ich erweiſe mich wie ein wahrer Deutſcher. Umſtaͤndlich erzaͤhlte er mir aus dem Tacitus, wie ſich unſere Ur¬ vaͤter an den Gefuͤhlen begnuͤgt, welche uns die Natur in ſolchen Einſamkeiten mit unge¬ kuͤnſtelter Bauart ſo herrlich vorbereitet. Er hatte mir nicht lange davon erzaͤhlt, als ich ausrief: O! warum liegt dieſer koͤſtliche Platz nicht in tiefer Wildniß, warum duͤrfen wir nicht einen Zaun umher fuͤhren, ihn und uns zu heiligen und von der Welt abzuſondern! Gewiß es iſt keine ſchoͤnere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß aus dem Wechſelgeſpraͤch mit der Natur in unſerem Buſen entſpringt! — Was ich damals fuͤhlte, iſt mir noch gegenwaͤrtig; was ich ſagte, wuͤßte ich nicht wieder zu finden. Soviel iſt aber gewiß, daß die unbeſtimm¬ ten, ſich weit ausdehnenden Gefuͤhle der Jugend und ungebildeter Voͤlker allein zum Erhabenen geeignet ſind, das, wenn es durch aͤußere Dinge in uns erregt werden ſoll, form¬ II. 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/25
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/25>, abgerufen am 27.04.2024.