Männer mir unverdient ihre Neigung zuge¬ wendet hatten. Unverdient, sage ich: denn es war keiner darunter, dem ich nicht, durch wi¬ derliche Launen, beschwerlich gewesen wäre, keiner, den ich nicht durch krankhaften Wider¬ sinn mehr als einmal verletzt, ja den ich nicht, im Gefühl meines eignen Unrechts, eine Zeit lang störrisch gemieden hätte. Dieß alles war vergessen, sie behandelten mich aufs liebreichste und suchten mich theils auf meinem Zimmer, theils sobald ich es verlassen konnte, zu unter¬ halten und zu zerstreuen. Sie fuhren mit mir aus, bewirtheten mich auf ihren Landhäu¬ sern, und ich schien mich bald zu erholen.
Unter diesen Freunden nenne ich wohl zu¬ förderst den damaligen Rathsherrn, nachheri¬ gen Burgemeister von Leipzig, Doctor Her¬ mann. Er war unter denen Tischgenossen, die ich durch Schlosser kennen lernte, derjenige, zu dem sich ein immer gleiches und dauern¬ des Verhältniß bewährte. Man konnte ihn
Maͤnner mir unverdient ihre Neigung zuge¬ wendet hatten. Unverdient, ſage ich: denn es war keiner darunter, dem ich nicht, durch wi¬ derliche Launen, beſchwerlich geweſen waͤre, keiner, den ich nicht durch krankhaften Wider¬ ſinn mehr als einmal verletzt, ja den ich nicht, im Gefuͤhl meines eignen Unrechts, eine Zeit lang ſtoͤrriſch gemieden haͤtte. Dieß alles war vergeſſen, ſie behandelten mich aufs liebreichſte und ſuchten mich theils auf meinem Zimmer, theils ſobald ich es verlaſſen konnte, zu unter¬ halten und zu zerſtreuen. Sie fuhren mit mir aus, bewirtheten mich auf ihren Landhaͤu¬ ſern, und ich ſchien mich bald zu erholen.
Unter dieſen Freunden nenne ich wohl zu¬ foͤrderſt den damaligen Rathsherrn, nachheri¬ gen Burgemeiſter von Leipzig, Doctor Her¬ mann. Er war unter denen Tiſchgenoſſen, die ich durch Schloſſer kennen lernte, derjenige, zu dem ſich ein immer gleiches und dauern¬ des Verhaͤltniß bewaͤhrte. Man konnte ihn
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Maͤnner mir unverdient ihre Neigung zuge¬
wendet hatten. Unverdient, ſage ich: denn es
war keiner darunter, dem ich nicht, durch wi¬
derliche Launen, beſchwerlich geweſen waͤre,
keiner, den ich nicht durch krankhaften Wider¬
ſinn mehr als einmal verletzt, ja den ich nicht,
im Gefuͤhl meines eignen Unrechts, eine Zeit
lang ſtoͤrriſch gemieden haͤtte. Dieß alles war
vergeſſen, ſie behandelten mich aufs liebreichſte
und ſuchten mich theils auf meinem Zimmer,
theils ſobald ich es verlaſſen konnte, zu unter¬
halten und zu zerſtreuen. Sie fuhren mit
mir aus, bewirtheten mich auf ihren Landhaͤu¬
ſern, und ich ſchien mich bald zu erholen.
Unter dieſen Freunden nenne ich wohl zu¬
foͤrderſt den damaligen Rathsherrn, nachheri¬
gen Burgemeiſter von Leipzig, Doctor Her¬
mann. Er war unter denen Tiſchgenoſſen, die
ich durch Schloſſer kennen lernte, derjenige,
zu dem ſich ein immer gleiches und dauern¬
des Verhaͤltniß bewaͤhrte. Man konnte ihn
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/292>, abgerufen am 21.11.2024.
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