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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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entschloß, mit einem Buche ein anderes ge¬
fälliges Plätzchen zu suchen. Nun störte mich
nichts, meiner Liebhaberey nachzuhängen, die
um desto emsiger war, als mir meine Blätter
dadurch lieb wurden, daß ich mich gewöhnte,
an ihnen nicht sowohl das zu sehen, was
darauf stand, als dasjenige, was ich zu jeder
Zeit und Stunde dabey gedacht hatte. So
können uns Kräuter und Blumen der gemein¬
sten Art ein liebes Tagebuch bilden, weil
nichts, was die Erinnerung eines glücklichen
Moments zurückruft, unbedeutend seyn kann;
und noch jetzt würde es mir schwer fallen,
manches dergleichen, was mir aus verschiede¬
nen Epochen übrig geblieben, als werthlos zu
vertilgen, weil es, mich unmittelbar in jene
Zeiten versetzt, deren ich mich zwar mit Weh¬
muth, doch nicht ungern erinnere.

Wenn aber solche Blätter irgend ein In¬
teresse an und für sich haben könnten, so wä¬
ren sie diesen Vorzug der Theilnahme und

entſchloß, mit einem Buche ein anderes ge¬
faͤlliges Plaͤtzchen zu ſuchen. Nun ſtoͤrte mich
nichts, meiner Liebhaberey nachzuhaͤngen, die
um deſto emſiger war, als mir meine Blaͤtter
dadurch lieb wurden, daß ich mich gewoͤhnte,
an ihnen nicht ſowohl das zu ſehen, was
darauf ſtand, als dasjenige, was ich zu jeder
Zeit und Stunde dabey gedacht hatte. So
koͤnnen uns Kraͤuter und Blumen der gemein¬
ſten Art ein liebes Tagebuch bilden, weil
nichts, was die Erinnerung eines gluͤcklichen
Moments zuruͤckruft, unbedeutend ſeyn kann;
und noch jetzt wuͤrde es mir ſchwer fallen,
manches dergleichen, was mir aus verſchiede¬
nen Epochen uͤbrig geblieben, als werthlos zu
vertilgen, weil es, mich unmittelbar in jene
Zeiten verſetzt, deren ich mich zwar mit Weh¬
muth, doch nicht ungern erinnere.

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[22/0030] entſchloß, mit einem Buche ein anderes ge¬ faͤlliges Plaͤtzchen zu ſuchen. Nun ſtoͤrte mich nichts, meiner Liebhaberey nachzuhaͤngen, die um deſto emſiger war, als mir meine Blaͤtter dadurch lieb wurden, daß ich mich gewoͤhnte, an ihnen nicht ſowohl das zu ſehen, was darauf ſtand, als dasjenige, was ich zu jeder Zeit und Stunde dabey gedacht hatte. So koͤnnen uns Kraͤuter und Blumen der gemein¬ ſten Art ein liebes Tagebuch bilden, weil nichts, was die Erinnerung eines gluͤcklichen Moments zuruͤckruft, unbedeutend ſeyn kann; und noch jetzt wuͤrde es mir ſchwer fallen, manches dergleichen, was mir aus verſchiede¬ nen Epochen uͤbrig geblieben, als werthlos zu vertilgen, weil es, mich unmittelbar in jene Zeiten verſetzt, deren ich mich zwar mit Weh¬ muth, doch nicht ungern erinnere. Wenn aber ſolche Blaͤtter irgend ein In¬ tereſſe an und fuͤr ſich haben koͤnnten, ſo waͤ¬ ren ſie dieſen Vorzug der Theilnahme und

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/30>, abgerufen am 23.11.2024.