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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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und hierdurch ward nun das jugendliche Ehr-
und Rachgefühl mächtig aufgefordert. Man er¬
zählte sich öffentlich, daß den nächsten Abend
Fenster eingeworfen werden sollten, und einige
Freunde, welche mir die Nachricht brachten,
daß es wirklich geschehe, mußten mich hinfüh¬
ren, da Jugend und Menge wohl immer
durch Gefahr und Tumult angezogen wird.
Es begann wirklich ein seltsames Schauspiel.
Die übrigens freye Straße war an der einen
Seite von Menschen besetzt, welche ganz ru¬
hig, ohne Lärm und Bewegung abwarteten,
was geschehen solle. Auf der leeren Bahn
gingen etwa ein Duzzend junge Leute einzeln
hin und wieder, in anscheinender größter Ge¬
lassenheit; sobald sie aber gegen das bezeich¬
nete Haus kamen, so warfen sie im Vorbey¬
gehn Steine nach den Fenstern, und dieß zu
wiederholten malen hin und wiederkehrend, so
lange die Scheiben noch klirren wollten. Eben
so ruhig, wie dieses vorging, verlief sich auch

und hierdurch ward nun das jugendliche Ehr-
und Rachgefuͤhl maͤchtig aufgefordert. Man er¬
zaͤhlte ſich oͤffentlich, daß den naͤchſten Abend
Fenſter eingeworfen werden ſollten, und einige
Freunde, welche mir die Nachricht brachten,
daß es wirklich geſchehe, mußten mich hinfuͤh¬
ren, da Jugend und Menge wohl immer
durch Gefahr und Tumult angezogen wird.
Es begann wirklich ein ſeltſames Schauſpiel.
Die uͤbrigens freye Straße war an der einen
Seite von Menſchen beſetzt, welche ganz ru¬
hig, ohne Laͤrm und Bewegung abwarteten,
was geſchehen ſolle. Auf der leeren Bahn
gingen etwa ein Duzzend junge Leute einzeln
hin und wieder, in anſcheinender groͤßter Ge¬
laſſenheit; ſobald ſie aber gegen das bezeich¬
nete Haus kamen, ſo warfen ſie im Vorbey¬
gehn Steine nach den Fenſtern, und dieß zu
wiederholten malen hin und wiederkehrend, ſo
lange die Scheiben noch klirren wollten. Eben
ſo ruhig, wie dieſes vorging, verlief ſich auch

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[296/0304] und hierdurch ward nun das jugendliche Ehr- und Rachgefuͤhl maͤchtig aufgefordert. Man er¬ zaͤhlte ſich oͤffentlich, daß den naͤchſten Abend Fenſter eingeworfen werden ſollten, und einige Freunde, welche mir die Nachricht brachten, daß es wirklich geſchehe, mußten mich hinfuͤh¬ ren, da Jugend und Menge wohl immer durch Gefahr und Tumult angezogen wird. Es begann wirklich ein ſeltſames Schauſpiel. Die uͤbrigens freye Straße war an der einen Seite von Menſchen beſetzt, welche ganz ru¬ hig, ohne Laͤrm und Bewegung abwarteten, was geſchehen ſolle. Auf der leeren Bahn gingen etwa ein Duzzend junge Leute einzeln hin und wieder, in anſcheinender groͤßter Ge¬ laſſenheit; ſobald ſie aber gegen das bezeich¬ nete Haus kamen, ſo warfen ſie im Vorbey¬ gehn Steine nach den Fenſtern, und dieß zu wiederholten malen hin und wiederkehrend, ſo lange die Scheiben noch klirren wollten. Eben ſo ruhig, wie dieſes vorging, verlief ſich auch

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 296. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/304>, abgerufen am 20.05.2024.