Dingen höchst verdrießliche Aussichten auf je¬ den neuen Tag geben mußte. Arzt und Chi¬ rurgus gehörten auch unter die abgesonderten Frommen, obgleich beyde von höchst verschie¬ denem Naturell waren. Der Chirurgus, ein schlanker wohlgebildeter Mann von leichter und geschickter Hand, der, leider etwas hec¬ tisch, seinen Zustand mit wahrhaft christlicher Geduld ertrug, und sich in seinem Berufe durch sein Uebel nicht irre machen ließ. Der Arzt, ein unerklärlicher, schlaublickender, freund¬ lich sprechender, übrigens abstruser Mann, der sich in dem frommen Kreise ein ganz besonderes Zutrauen erworben hatte. Thätig und auf¬ merksam war er den Kranken tröstlich; mehr aber als durch alles erweiterte er seine Kund¬ schaft durch die Gabe, einige geheimni߬ volle selbstbereitete Arzneyen im Hintergrunde zu zeigen, von denen Niemand sprechen durfte, weil bey uns den Aerzten die eigene Dispen¬ sation streng verboten war. Mit gewissen Pulvern, die irgend ein Digestiv seyn mochten,
20 *
Dingen hoͤchſt verdrießliche Ausſichten auf je¬ den neuen Tag geben mußte. Arzt und Chi¬ rurgus gehoͤrten auch unter die abgeſonderten Frommen, obgleich beyde von hoͤchſt verſchie¬ denem Naturell waren. Der Chirurgus, ein ſchlanker wohlgebildeter Mann von leichter und geſchickter Hand, der, leider etwas hec¬ tiſch, ſeinen Zuſtand mit wahrhaft chriſtlicher Geduld ertrug, und ſich in ſeinem Berufe durch ſein Uebel nicht irre machen ließ. Der Arzt, ein unerklaͤrlicher, ſchlaublickender, freund¬ lich ſprechender, uͤbrigens abſtruſer Mann, der ſich in dem frommen Kreiſe ein ganz beſonderes Zutrauen erworben hatte. Thaͤtig und auf¬ merkſam war er den Kranken troͤſtlich; mehr aber als durch alles erweiterte er ſeine Kund¬ ſchaft durch die Gabe, einige geheimni߬ volle ſelbſtbereitete Arzneyen im Hintergrunde zu zeigen, von denen Niemand ſprechen durfte, weil bey uns den Aerzten die eigene Dispen¬ ſation ſtreng verboten war. Mit gewiſſen Pulvern, die irgend ein Digeſtiv ſeyn mochten,
20 *
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0315"n="307"/>
Dingen hoͤchſt verdrießliche Ausſichten auf je¬<lb/>
den neuen Tag geben mußte. Arzt und Chi¬<lb/>
rurgus gehoͤrten auch unter die abgeſonderten<lb/>
Frommen, obgleich beyde von hoͤchſt verſchie¬<lb/>
denem Naturell waren. Der Chirurgus, ein<lb/>ſchlanker wohlgebildeter Mann von leichter<lb/>
und geſchickter Hand, der, leider etwas hec¬<lb/>
tiſch, ſeinen Zuſtand mit wahrhaft chriſtlicher<lb/>
Geduld ertrug, und ſich in ſeinem Berufe<lb/>
durch ſein Uebel nicht irre machen ließ. Der<lb/>
Arzt, ein unerklaͤrlicher, ſchlaublickender, freund¬<lb/>
lich ſprechender, uͤbrigens abſtruſer Mann, der<lb/>ſich in dem frommen Kreiſe ein ganz beſonderes<lb/>
Zutrauen erworben hatte. Thaͤtig und auf¬<lb/>
merkſam war er den Kranken troͤſtlich; mehr<lb/>
aber als durch alles erweiterte er ſeine Kund¬<lb/>ſchaft durch die Gabe, einige geheimni߬<lb/>
volle ſelbſtbereitete Arzneyen im Hintergrunde<lb/>
zu zeigen, von denen Niemand ſprechen durfte,<lb/>
weil bey uns den Aerzten die eigene Dispen¬<lb/>ſation ſtreng verboten war. Mit gewiſſen<lb/>
Pulvern, die irgend ein Digeſtiv ſeyn mochten,<lb/><fwplace="bottom"type="sig">20 *<lb/></fw></p></div></body></text></TEI>
[307/0315]
Dingen hoͤchſt verdrießliche Ausſichten auf je¬
den neuen Tag geben mußte. Arzt und Chi¬
rurgus gehoͤrten auch unter die abgeſonderten
Frommen, obgleich beyde von hoͤchſt verſchie¬
denem Naturell waren. Der Chirurgus, ein
ſchlanker wohlgebildeter Mann von leichter
und geſchickter Hand, der, leider etwas hec¬
tiſch, ſeinen Zuſtand mit wahrhaft chriſtlicher
Geduld ertrug, und ſich in ſeinem Berufe
durch ſein Uebel nicht irre machen ließ. Der
Arzt, ein unerklaͤrlicher, ſchlaublickender, freund¬
lich ſprechender, uͤbrigens abſtruſer Mann, der
ſich in dem frommen Kreiſe ein ganz beſonderes
Zutrauen erworben hatte. Thaͤtig und auf¬
merkſam war er den Kranken troͤſtlich; mehr
aber als durch alles erweiterte er ſeine Kund¬
ſchaft durch die Gabe, einige geheimni߬
volle ſelbſtbereitete Arzneyen im Hintergrunde
zu zeigen, von denen Niemand ſprechen durfte,
weil bey uns den Aerzten die eigene Dispen¬
ſation ſtreng verboten war. Mit gewiſſen
Pulvern, die irgend ein Digeſtiv ſeyn mochten,
20 *
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 307. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/315>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.