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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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um die im Ganzen versagten Freuden wenig¬
stens einzeln zu erhaschen. Da aber die Stun¬
den der Eingezogenheit und Mühe sehr lang
und weit waren gegen die Augenblicke der
Erholung und des Vergnügens, besonders für
meine Schwester, die das Haus niemals auf
so lange Zelt als ich verlassen konnte; so ward
ihr Bedürfniß, sich mit mir zu unterhalten,
noch durch die Sehnsucht geschärft, mit der
sie mich in die Ferne begleitete.

Und so wie in den ersten Jahren Spiel
und Lernen, Wachsthum und Bildung den
Geschwistern völlig gemein war, so daß sie
sich wohl für Zwillinge halten konnten; so
blieb auch unter ihnen diese Gemeinschaft,
dieses Vertrauen, bey Entwickelung physischer
und moralischer Kräfte. Jenes Interesse der
Jugend, jenes Erstaunen beym Erwachen sinn¬
licher Triebe, die sich in geistige Formen,
geistiger Bedürfnisse, die sich in sinnliche Ge¬
stalten einkleiden, alle Betrachtungen darüber

um die im Ganzen verſagten Freuden wenig¬
ſtens einzeln zu erhaſchen. Da aber die Stun¬
den der Eingezogenheit und Muͤhe ſehr lang
und weit waren gegen die Augenblicke der
Erholung und des Vergnuͤgens, beſonders fuͤr
meine Schweſter, die das Haus niemals auf
ſo lange Zelt als ich verlaſſen konnte; ſo ward
ihr Beduͤrfniß, ſich mit mir zu unterhalten,
noch durch die Sehnſucht geſchaͤrft, mit der
ſie mich in die Ferne begleitete.

Und ſo wie in den erſten Jahren Spiel
und Lernen, Wachsthum und Bildung den
Geſchwiſtern voͤllig gemein war, ſo daß ſie
ſich wohl fuͤr Zwillinge halten konnten; ſo
blieb auch unter ihnen dieſe Gemeinſchaft,
dieſes Vertrauen, bey Entwickelung phyſiſcher
und moraliſcher Kraͤfte. Jenes Intereſſe der
Jugend, jenes Erſtaunen beym Erwachen ſinn¬
licher Triebe, die ſich in geiſtige Formen,
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[29/0037] um die im Ganzen verſagten Freuden wenig¬ ſtens einzeln zu erhaſchen. Da aber die Stun¬ den der Eingezogenheit und Muͤhe ſehr lang und weit waren gegen die Augenblicke der Erholung und des Vergnuͤgens, beſonders fuͤr meine Schweſter, die das Haus niemals auf ſo lange Zelt als ich verlaſſen konnte; ſo ward ihr Beduͤrfniß, ſich mit mir zu unterhalten, noch durch die Sehnſucht geſchaͤrft, mit der ſie mich in die Ferne begleitete. Und ſo wie in den erſten Jahren Spiel und Lernen, Wachsthum und Bildung den Geſchwiſtern voͤllig gemein war, ſo daß ſie ſich wohl fuͤr Zwillinge halten konnten; ſo blieb auch unter ihnen dieſe Gemeinſchaft, dieſes Vertrauen, bey Entwickelung phyſiſcher und moraliſcher Kraͤfte. Jenes Intereſſe der Jugend, jenes Erſtaunen beym Erwachen ſinn¬ licher Triebe, die ſich in geiſtige Formen, geiſtiger Beduͤrfniſſe, die ſich in ſinnliche Ge¬ ſtalten einkleiden, alle Betrachtungen daruͤber

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/37>, abgerufen am 27.04.2024.