Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

dere Form denken als die der Richardsonschen
Romane. Nur durch das genauste Detail,
durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig
alle den Character des Ganzen tragen und,
indem sie aus einer wundersamen Tiefe her¬
vorspringen, eine Ahndung von dieser Tiefe
geben; nur auf solche Weise hätte es einiger¬
maßen gelingen können, eine Vorstellung die¬
ser merkwürdigen Persönlichkeit mitzutheilen:
denn die Quelle kann nur gedacht werden,
in sofern sie fließt. Aber von diesem schö¬
nen und frommen Vorsatz zog mich, wie von
so vielen anderen, der Tumult der Welt zu¬
rück, und nun bleibt mir nichts übrig, als
den Schatten jenes seligen Geistes nur, wie
durch Hülfe eines magischen Spiegels, auf
einen Augenblick heranzurufen.

Sie war groß, wohl- und zart gebaut
und hatte etwas Natürlichwürdiges in ihrem
Betragen, das in eine angenehme Weichheit
verschmolz. Die Züge ihres Gesichts, weder

dere Form denken als die der Richardſonſchen
Romane. Nur durch das genauſte Detail,
durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig
alle den Character des Ganzen tragen und,
indem ſie aus einer wunderſamen Tiefe her¬
vorſpringen, eine Ahndung von dieſer Tiefe
geben; nur auf ſolche Weiſe haͤtte es einiger¬
maßen gelingen koͤnnen, eine Vorſtellung die¬
ſer merkwuͤrdigen Perſoͤnlichkeit mitzutheilen:
denn die Quelle kann nur gedacht werden,
in ſofern ſie fließt. Aber von dieſem ſchoͤ¬
nen und frommen Vorſatz zog mich, wie von
ſo vielen anderen, der Tumult der Welt zu¬
ruͤck, und nun bleibt mir nichts uͤbrig, als
den Schatten jenes ſeligen Geiſtes nur, wie
durch Huͤlfe eines magiſchen Spiegels, auf
einen Augenblick heranzurufen.

Sie war groß, wohl- und zart gebaut
und hatte etwas Natuͤrlichwuͤrdiges in ihrem
Betragen, das in eine angenehme Weichheit
verſchmolz. Die Zuͤge ihres Geſichts, weder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0039" n="31"/>
dere Form denken als die der Richard&#x017F;on&#x017F;chen<lb/>
Romane. Nur durch das genau&#x017F;te Detail,<lb/>
durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig<lb/>
alle den Character des Ganzen tragen und,<lb/>
indem &#x017F;ie aus einer wunder&#x017F;amen Tiefe her¬<lb/>
vor&#x017F;pringen, eine Ahndung von die&#x017F;er Tiefe<lb/>
geben; nur auf &#x017F;olche Wei&#x017F;e ha&#x0364;tte es einiger¬<lb/>
maßen gelingen ko&#x0364;nnen, eine Vor&#x017F;tellung die¬<lb/>
&#x017F;er merkwu&#x0364;rdigen Per&#x017F;o&#x0364;nlichkeit mitzutheilen:<lb/>
denn die Quelle kann nur gedacht werden,<lb/>
in &#x017F;ofern &#x017F;ie fließt. Aber von die&#x017F;em &#x017F;cho&#x0364;¬<lb/>
nen und frommen Vor&#x017F;atz zog mich, wie von<lb/>
&#x017F;o vielen anderen, der Tumult der Welt zu¬<lb/>
ru&#x0364;ck, und nun bleibt mir nichts u&#x0364;brig, als<lb/>
den Schatten jenes &#x017F;eligen Gei&#x017F;tes nur, wie<lb/>
durch Hu&#x0364;lfe eines magi&#x017F;chen Spiegels, auf<lb/>
einen Augenblick heranzurufen.</p><lb/>
        <p>Sie war groß, wohl- und zart gebaut<lb/>
und hatte etwas Natu&#x0364;rlichwu&#x0364;rdiges in ihrem<lb/>
Betragen, das in eine angenehme Weichheit<lb/>
ver&#x017F;chmolz. Die Zu&#x0364;ge ihres Ge&#x017F;ichts, weder<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[31/0039] dere Form denken als die der Richardſonſchen Romane. Nur durch das genauſte Detail, durch unendliche Einzelnheiten, die lebendig alle den Character des Ganzen tragen und, indem ſie aus einer wunderſamen Tiefe her¬ vorſpringen, eine Ahndung von dieſer Tiefe geben; nur auf ſolche Weiſe haͤtte es einiger¬ maßen gelingen koͤnnen, eine Vorſtellung die¬ ſer merkwuͤrdigen Perſoͤnlichkeit mitzutheilen: denn die Quelle kann nur gedacht werden, in ſofern ſie fließt. Aber von dieſem ſchoͤ¬ nen und frommen Vorſatz zog mich, wie von ſo vielen anderen, der Tumult der Welt zu¬ ruͤck, und nun bleibt mir nichts uͤbrig, als den Schatten jenes ſeligen Geiſtes nur, wie durch Huͤlfe eines magiſchen Spiegels, auf einen Augenblick heranzurufen. Sie war groß, wohl- und zart gebaut und hatte etwas Natuͤrlichwuͤrdiges in ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verſchmolz. Die Zuͤge ihres Geſichts, weder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/39
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 31. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/39>, abgerufen am 03.12.2024.