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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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bedeutend noch schön, sprachen von einem
Wesen, das weder mit sich einig war, noch
werden konnte. Ihre Augen waren nicht die
schönsten, die ich jemals sah, aber die tief¬
sten, hinter denen man am meisten erwartete,
und wenn sie irgend eine Neigung, eine Lie¬
be ausdrückten, einen Glanz hatten ohne Glei¬
chen; und doch war dieser Ausdruck eigentlich
nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen
kommt und zugleich etwas Sehnsüchtiges und
Verlangendes mit sich führt; dieser Ausdruck
kam aus der Seele, er war voll und reich,
er schien nur geben zu wollen, nicht des Em¬
pfangens zu bedürfen.

Was ihr Gesicht aber ganz eigentlich ent¬
stellte, so daß sie manchmal wirklich häßlich
aussehen konnte, war die Mode jener Zeit,
welche nicht allein die Stirn entblößte, son¬
dern auch alles that, um sie scheinbar oder
wirklich, zufällig oder vorsätzlich zu vergrö¬
ßern. Da sie nun die weiblichste, reingewölb¬

bedeutend noch ſchoͤn, ſprachen von einem
Weſen, das weder mit ſich einig war, noch
werden konnte. Ihre Augen waren nicht die
ſchoͤnſten, die ich jemals ſah, aber die tief¬
ſten, hinter denen man am meiſten erwartete,
und wenn ſie irgend eine Neigung, eine Lie¬
be ausdruͤckten, einen Glanz hatten ohne Glei¬
chen; und doch war dieſer Ausdruck eigentlich
nicht zaͤrtlich, wie der, der aus dem Herzen
kommt und zugleich etwas Sehnſuͤchtiges und
Verlangendes mit ſich fuͤhrt; dieſer Ausdruck
kam aus der Seele, er war voll und reich,
er ſchien nur geben zu wollen, nicht des Em¬
pfangens zu beduͤrfen.

Was ihr Geſicht aber ganz eigentlich ent¬
ſtellte, ſo daß ſie manchmal wirklich haͤßlich
ausſehen konnte, war die Mode jener Zeit,
welche nicht allein die Stirn entbloͤßte, ſon¬
dern auch alles that, um ſie ſcheinbar oder
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[32/0040] bedeutend noch ſchoͤn, ſprachen von einem Weſen, das weder mit ſich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht die ſchoͤnſten, die ich jemals ſah, aber die tief¬ ſten, hinter denen man am meiſten erwartete, und wenn ſie irgend eine Neigung, eine Lie¬ be ausdruͤckten, einen Glanz hatten ohne Glei¬ chen; und doch war dieſer Ausdruck eigentlich nicht zaͤrtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt und zugleich etwas Sehnſuͤchtiges und Verlangendes mit ſich fuͤhrt; dieſer Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er ſchien nur geben zu wollen, nicht des Em¬ pfangens zu beduͤrfen. Was ihr Geſicht aber ganz eigentlich ent¬ ſtellte, ſo daß ſie manchmal wirklich haͤßlich ausſehen konnte, war die Mode jener Zeit, welche nicht allein die Stirn entbloͤßte, ſon¬ dern auch alles that, um ſie ſcheinbar oder wirklich, zufaͤllig oder vorſaͤtzlich zu vergroͤ¬ ßern. Da ſie nun die weiblichſte, reingewoͤlb¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/40>, abgerufen am 28.04.2024.