Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

die zuvorkommende Dienstfertigkeit dieses An¬
gestellten gerühmt habe. Nein! solche Wuth
eines Menschen gegen sich selbst ist mir nie
wieder vorgekommen; es war die leidenschaft¬
lichste Schlußrede zu jenen Anfängen, wozu
das hübsche Mädchen Anlaß gegeben hatte.
Hier sah ich Reue und Buße bis zur Cari¬
catur getrieben, und, wie alle Leidenschaft
das Genie ersetzt, wirklich genialisch. Denn
er nahm die sämmtlichen Vorfallenheiten un¬
serer Nachmittagswanderung wieder auf, be¬
nutzte sie rednerisch zur Selbstscheltung, ließ
zuletzt die Hexe nochmals gegen sich auftre¬
ten, und verwirrte sich dergestalt, daß ich
fürchten mußte, er werde sich in den Rhein
stürzen. Wäre ich sicher gewesen, ihn, wie
Mentor seinen Telemach, schnell wieder auf¬
zufischen, so mochte er springen, und ich hät¬
te ihn für dießmal abgekühlt nach Hause ge¬
bracht.

die zuvorkommende Dienſtfertigkeit dieſes An¬
geſtellten geruͤhmt habe. Nein! ſolche Wuth
eines Menſchen gegen ſich ſelbſt iſt mir nie
wieder vorgekommen; es war die leidenſchaft¬
lichſte Schlußrede zu jenen Anfaͤngen, wozu
das huͤbſche Maͤdchen Anlaß gegeben hatte.
Hier ſah ich Reue und Buße bis zur Cari¬
catur getrieben, und, wie alle Leidenſchaft
das Genie erſetzt, wirklich genialiſch. Denn
er nahm die ſaͤmmtlichen Vorfallenheiten un¬
ſerer Nachmittagswanderung wieder auf, be¬
nutzte ſie redneriſch zur Selbſtſcheltung, ließ
zuletzt die Hexe nochmals gegen ſich auftre¬
ten, und verwirrte ſich dergeſtalt, daß ich
fuͤrchten mußte, er werde ſich in den Rhein
ſtuͤrzen. Waͤre ich ſicher geweſen, ihn, wie
Mentor ſeinen Telemach, ſchnell wieder auf¬
zufiſchen, ſo mochte er ſpringen, und ich haͤt¬
te ihn fuͤr dießmal abgekuͤhlt nach Hauſe ge¬
bracht.

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0415" n="407"/>
die zuvorkommende Dien&#x017F;tfertigkeit die&#x017F;es An¬<lb/>
ge&#x017F;tellten geru&#x0364;hmt habe. Nein! &#x017F;olche Wuth<lb/>
eines Men&#x017F;chen gegen &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t i&#x017F;t mir nie<lb/>
wieder vorgekommen; es war die leiden&#x017F;chaft¬<lb/>
lich&#x017F;te Schlußrede zu jenen Anfa&#x0364;ngen, wozu<lb/>
das hu&#x0364;b&#x017F;che Ma&#x0364;dchen Anlaß gegeben hatte.<lb/>
Hier &#x017F;ah ich Reue und Buße bis zur Cari¬<lb/>
catur getrieben, und, wie alle Leiden&#x017F;chaft<lb/>
das Genie er&#x017F;etzt, wirklich geniali&#x017F;ch. Denn<lb/>
er nahm die &#x017F;a&#x0364;mmtlichen Vorfallenheiten un¬<lb/>
&#x017F;erer Nachmittagswanderung wieder auf, be¬<lb/>
nutzte &#x017F;ie redneri&#x017F;ch zur Selb&#x017F;t&#x017F;cheltung, ließ<lb/>
zuletzt die Hexe nochmals gegen &#x017F;ich auftre¬<lb/>
ten, und verwirrte &#x017F;ich derge&#x017F;talt, daß ich<lb/>
fu&#x0364;rchten mußte, er werde &#x017F;ich in den Rhein<lb/>
&#x017F;tu&#x0364;rzen. Wa&#x0364;re ich &#x017F;icher gewe&#x017F;en, ihn, wie<lb/>
Mentor &#x017F;einen Telemach, &#x017F;chnell wieder auf¬<lb/>
zufi&#x017F;chen, &#x017F;o mochte er &#x017F;pringen, und ich ha&#x0364;<lb/>
te ihn fu&#x0364;r dießmal abgeku&#x0364;hlt nach Hau&#x017F;e ge¬<lb/>
bracht.</p><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[407/0415] die zuvorkommende Dienſtfertigkeit dieſes An¬ geſtellten geruͤhmt habe. Nein! ſolche Wuth eines Menſchen gegen ſich ſelbſt iſt mir nie wieder vorgekommen; es war die leidenſchaft¬ lichſte Schlußrede zu jenen Anfaͤngen, wozu das huͤbſche Maͤdchen Anlaß gegeben hatte. Hier ſah ich Reue und Buße bis zur Cari¬ catur getrieben, und, wie alle Leidenſchaft das Genie erſetzt, wirklich genialiſch. Denn er nahm die ſaͤmmtlichen Vorfallenheiten un¬ ſerer Nachmittagswanderung wieder auf, be¬ nutzte ſie redneriſch zur Selbſtſcheltung, ließ zuletzt die Hexe nochmals gegen ſich auftre¬ ten, und verwirrte ſich dergeſtalt, daß ich fuͤrchten mußte, er werde ſich in den Rhein ſtuͤrzen. Waͤre ich ſicher geweſen, ihn, wie Mentor ſeinen Telemach, ſchnell wieder auf¬ zufiſchen, ſo mochte er ſpringen, und ich haͤt¬ te ihn fuͤr dießmal abgekuͤhlt nach Hauſe ge¬ bracht.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/415
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 407. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/415>, abgerufen am 20.05.2024.