lebhaft, sie verbarg mir's nicht, und ihre Neigung wendete sich desto kräftiger zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Ver¬ traute, denen man ein Liebesverständniß of¬ fenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heran¬ wachsen und die Neigung zuletzt wohl auf sich selbst hinziehen, so war es mit uns Geschwi¬ stern: denn indem mein Verhältniß zu Gret¬ chen zerriß, tröstete mich meine Schwester um desto ernstlicher, als sie heimlich die Zufrie¬ denheit empfand, eine Nebenbuhlerinn losge¬ worden zu seyn; und so mußte auch ich mit einer stillen Halbschadenfreude empfinden, wenn sie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß ich der Einzige sey, der sie wahrhaft liebe, sie kenne und sie verehre. Wenn sich nun bey mir von Zeit zu Zeit der Schmerz über Gretchens Verlust erneuerte und ich aus dem Stegreife zu weinen, zu klagen und mich un¬ gebärdig zu stellen anfing, so erregte meine Verzweifelung über das Verlorene bey ihr ei¬
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lebhaft, ſie verbarg mir's nicht, und ihre Neigung wendete ſich deſto kraͤftiger zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Ver¬ traute, denen man ein Liebesverſtaͤndniß of¬ fenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich Mitliebende werden, ja zu Rivalen heran¬ wachſen und die Neigung zuletzt wohl auf ſich ſelbſt hinziehen, ſo war es mit uns Geſchwi¬ ſtern: denn indem mein Verhaͤltniß zu Gret¬ chen zerriß, troͤſtete mich meine Schweſter um deſto ernſtlicher, als ſie heimlich die Zufrie¬ denheit empfand, eine Nebenbuhlerinn losge¬ worden zu ſeyn; und ſo mußte auch ich mit einer ſtillen Halbſchadenfreude empfinden, wenn ſie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß ich der Einzige ſey, der ſie wahrhaft liebe, ſie kenne und ſie verehre. Wenn ſich nun bey mir von Zeit zu Zeit der Schmerz uͤber Gretchens Verluſt erneuerte und ich aus dem Stegreife zu weinen, zu klagen und mich un¬ gebaͤrdig zu ſtellen anfing, ſo erregte meine Verzweifelung uͤber das Verlorene bey ihr ei¬
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lebhaft, ſie verbarg mir's nicht, und ihre
Neigung wendete ſich deſto kraͤftiger zu mir.
Der Fall war eigen genug. So wie Ver¬
traute, denen man ein Liebesverſtaͤndniß of¬
fenbart, durch aufrichtige Theilnahme wirklich
Mitliebende werden, ja zu Rivalen heran¬
wachſen und die Neigung zuletzt wohl auf ſich
ſelbſt hinziehen, ſo war es mit uns Geſchwi¬
ſtern: denn indem mein Verhaͤltniß zu Gret¬
chen zerriß, troͤſtete mich meine Schweſter um
deſto ernſtlicher, als ſie heimlich die Zufrie¬
denheit empfand, eine Nebenbuhlerinn losge¬
worden zu ſeyn; und ſo mußte auch ich mit
einer ſtillen Halbſchadenfreude empfinden, wenn
ſie mir Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß
ich der Einzige ſey, der ſie wahrhaft liebe,
ſie kenne und ſie verehre. Wenn ſich nun
bey mir von Zeit zu Zeit der Schmerz uͤber
Gretchens Verluſt erneuerte und ich aus dem
Stegreife zu weinen, zu klagen und mich un¬
gebaͤrdig zu ſtellen anfing, ſo erregte meine
Verzweifelung uͤber das Verlorene bey ihr ei¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/43>, abgerufen am 21.11.2024.
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