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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812.

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ne gleichfalls verzweifelnde Ungeduld über das
Niebesessene, Mislungene und Vorübergestri¬
chene solcher jugendlichen Neigungen, daß wir
uns beyde grenzenlos unglücklich hielten, und
um so mehr, als in diesem seltsamen Falle
die Vertrauenden sich nicht in Liebende um¬
wandeln durften.

Glücklicherweise mischte sich jedoch der wun¬
derliche Liebesgott, der ohne Noth so viel
Unheil anrichtet, hier einmal wohlthätig mit
ein, um uns aus aller Verlegenheit zu zie¬
hen. Mit einem jungen Engländer, der sich
in der Pfeilischen Pension bildete, hatte ich
viel Verkehr. Er konnte von seiner Sprache
gute Rechenschaft geben, ich übte sie mit ihm
und erfuhr dabey Manches von seinem Lande
und Volke. Er ging lange genug bey uns
aus und ein, ohne daß ich eine Neigung zu
meiner Schwester an ihm bemerkte, doch moch¬
te er sie im Stillen bis zur Leidenschaft ge¬
nährt haben: denn endlich erklärte sich's un¬

ne gleichfalls verzweifelnde Ungeduld uͤber das
Niebeſeſſene, Mislungene und Voruͤbergeſtri¬
chene ſolcher jugendlichen Neigungen, daß wir
uns beyde grenzenlos ungluͤcklich hielten, und
um ſo mehr, als in dieſem ſeltſamen Falle
die Vertrauenden ſich nicht in Liebende um¬
wandeln durften.

Gluͤcklicherweiſe miſchte ſich jedoch der wun¬
derliche Liebesgott, der ohne Noth ſo viel
Unheil anrichtet, hier einmal wohlthaͤtig mit
ein, um uns aus aller Verlegenheit zu zie¬
hen. Mit einem jungen Englaͤnder, der ſich
in der Pfeiliſchen Penſion bildete, hatte ich
viel Verkehr. Er konnte von ſeiner Sprache
gute Rechenſchaft geben, ich uͤbte ſie mit ihm
und erfuhr dabey Manches von ſeinem Lande
und Volke. Er ging lange genug bey uns
aus und ein, ohne daß ich eine Neigung zu
meiner Schweſter an ihm bemerkte, doch moch¬
te er ſie im Stillen bis zur Leidenſchaft ge¬
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[36/0044] ne gleichfalls verzweifelnde Ungeduld uͤber das Niebeſeſſene, Mislungene und Voruͤbergeſtri¬ chene ſolcher jugendlichen Neigungen, daß wir uns beyde grenzenlos ungluͤcklich hielten, und um ſo mehr, als in dieſem ſeltſamen Falle die Vertrauenden ſich nicht in Liebende um¬ wandeln durften. Gluͤcklicherweiſe miſchte ſich jedoch der wun¬ derliche Liebesgott, der ohne Noth ſo viel Unheil anrichtet, hier einmal wohlthaͤtig mit ein, um uns aus aller Verlegenheit zu zie¬ hen. Mit einem jungen Englaͤnder, der ſich in der Pfeiliſchen Penſion bildete, hatte ich viel Verkehr. Er konnte von ſeiner Sprache gute Rechenſchaft geben, ich uͤbte ſie mit ihm und erfuhr dabey Manches von ſeinem Lande und Volke. Er ging lange genug bey uns aus und ein, ohne daß ich eine Neigung zu meiner Schweſter an ihm bemerkte, doch moch¬ te er ſie im Stillen bis zur Leidenſchaft ge¬ naͤhrt haben: denn endlich erklaͤrte ſich's un¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/44>, abgerufen am 27.04.2024.