Dank und Undank gehören zu denen, in der moralischen Welt jeden Augenblick hervor¬ tretenden Ereignissen, worüber die Menschen sich unter einander niemals beruhigen können. Ich pflege einen Unterschied zu machen zwi¬ schen Nichtdankbarkeit, Undank und Wider¬ willen gegen den Dank. Jene erste ist dem Menschen angeboren, ja anerschaffen: denn sie entspringt aus einer glücklichen, leichtsin¬ nigen Vergessenheit des Widerwärtigen wie des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fort¬ setzung des Lebens möglich wird. Der Mensch bedarf so unendlich vieler äußeren Vor- und Mitwirkungen zu einem leidlichen Daseyn, daß wenn er der Sonne und der Erde, Gott und der Natur, Vorvordern und Aeltern, Freunden und Gesellen immer den gebühren¬ den Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit noch Gefühl übrig bliebe, um neue Wohl¬ thaten zu empfangen und zu genießen. Läßt nun freylich der natürliche Mensch jenen Leicht¬ sinn in und über sich walten, so nimmt eine
Dank und Undank gehoͤren zu denen, in der moraliſchen Welt jeden Augenblick hervor¬ tretenden Ereigniſſen, woruͤber die Menſchen ſich unter einander niemals beruhigen koͤnnen. Ich pflege einen Unterſchied zu machen zwi¬ ſchen Nichtdankbarkeit, Undank und Wider¬ willen gegen den Dank. Jene erſte iſt dem Menſchen angeboren, ja anerſchaffen: denn ſie entſpringt aus einer gluͤcklichen, leichtſin¬ nigen Vergeſſenheit des Widerwaͤrtigen wie des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fort¬ ſetzung des Lebens moͤglich wird. Der Menſch bedarf ſo unendlich vieler aͤußeren Vor- und Mitwirkungen zu einem leidlichen Daſeyn, daß wenn er der Sonne und der Erde, Gott und der Natur, Vorvordern und Aeltern, Freunden und Geſellen immer den gebuͤhren¬ den Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit noch Gefuͤhl uͤbrig bliebe, um neue Wohl¬ thaten zu empfangen und zu genießen. Laͤßt nun freylich der natuͤrliche Menſch jenen Leicht¬ ſinn in und uͤber ſich walten, ſo nimmt eine
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Dank und Undank gehoͤren zu denen, in
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tretenden Ereigniſſen, woruͤber die Menſchen
ſich unter einander niemals beruhigen koͤnnen.
Ich pflege einen Unterſchied zu machen zwi¬
ſchen Nichtdankbarkeit, Undank und Wider¬
willen gegen den Dank. Jene erſte iſt dem
Menſchen angeboren, ja anerſchaffen: denn
ſie entſpringt aus einer gluͤcklichen, leichtſin¬
nigen Vergeſſenheit des Widerwaͤrtigen wie
des Erfreulichen, wodurch ganz allein die Fort¬
ſetzung des Lebens moͤglich wird. Der Menſch
bedarf ſo unendlich vieler aͤußeren Vor- und
Mitwirkungen zu einem leidlichen Daſeyn, daß
wenn er der Sonne und der Erde, Gott
und der Natur, Vorvordern und Aeltern,
Freunden und Geſellen immer den gebuͤhren¬
den Dank abtragen wollte, ihm weder Zeit
noch Gefuͤhl uͤbrig bliebe, um neue Wohl¬
thaten zu empfangen und zu genießen. Laͤßt
nun freylich der natuͤrliche Menſch jenen Leicht¬
ſinn in und uͤber ſich walten, ſo nimmt eine
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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 2. Tübingen, 1812, S. 480. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben02_1812/488>, abgerufen am 22.11.2024.
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