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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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hellblaue, vielleicht graue Augen gaben sei¬
nem Blick, der aufmerkend hin und wieder
ging, etwas Tigerartiges. Lavaters Physio¬
gnomik hat uns sein Profil aufbewahrt. In
seinem Character lag ein wunderbares Mi߬
verhältniß: von Natur ein braver, edler, zu¬
verlässiger Mann, hatte er sich gegen die
Welt erbittert, und ließ diesen grillenkranken
Zug dergestalt in sich walten, daß er eine un¬
überwindliche Neigung fühlte, vorsätzlich ein
Schalk, ja ein Schelm zu seyn. Verständig,
ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es
ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke
ihre Hörner hervorstreckt, irgend etwas zu
thun, was einen andern kränkte, verletzte, ja
was ihm schädlich ward. Doch wie man
gern mit etwas Gefährlichem umgeht, wenn
man selbst davor sicher zu seyn glaubt, so
hatte ich eine desto größere Neigung mit ihm
zu leben und seiner guten Eigenschaften zu
genießen, da ein zuversichtliches Gefühl mich
ahnden ließ, daß er seine schlimme Seite

hellblaue, vielleicht graue Augen gaben ſei¬
nem Blick, der aufmerkend hin und wieder
ging, etwas Tigerartiges. Lavaters Phyſio¬
gnomik hat uns ſein Profil aufbewahrt. In
ſeinem Character lag ein wunderbares Mi߬
verhaͤltniß: von Natur ein braver, edler, zu¬
verlaͤſſiger Mann, hatte er ſich gegen die
Welt erbittert, und ließ dieſen grillenkranken
Zug dergeſtalt in ſich walten, daß er eine un¬
uͤberwindliche Neigung fuͤhlte, vorſaͤtzlich ein
Schalk, ja ein Schelm zu ſeyn. Verſtaͤndig,
ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es
ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke
ihre Hoͤrner hervorſtreckt, irgend etwas zu
thun, was einen andern kraͤnkte, verletzte, ja
was ihm ſchaͤdlich ward. Doch wie man
gern mit etwas Gefaͤhrlichem umgeht, wenn
man ſelbſt davor ſicher zu ſeyn glaubt, ſo
hatte ich eine deſto groͤßere Neigung mit ihm
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[144/0152] hellblaue, vielleicht graue Augen gaben ſei¬ nem Blick, der aufmerkend hin und wieder ging, etwas Tigerartiges. Lavaters Phyſio¬ gnomik hat uns ſein Profil aufbewahrt. In ſeinem Character lag ein wunderbares Mi߬ verhaͤltniß: von Natur ein braver, edler, zu¬ verlaͤſſiger Mann, hatte er ſich gegen die Welt erbittert, und ließ dieſen grillenkranken Zug dergeſtalt in ſich walten, daß er eine un¬ uͤberwindliche Neigung fuͤhlte, vorſaͤtzlich ein Schalk, ja ein Schelm zu ſeyn. Verſtaͤndig, ruhig, gut in einem Augenblick, konnte es ihm in dem andern einfallen, wie die Schnecke ihre Hoͤrner hervorſtreckt, irgend etwas zu thun, was einen andern kraͤnkte, verletzte, ja was ihm ſchaͤdlich ward. Doch wie man gern mit etwas Gefaͤhrlichem umgeht, wenn man ſelbſt davor ſicher zu ſeyn glaubt, ſo hatte ich eine deſto groͤßere Neigung mit ihm zu leben und ſeiner guten Eigenſchaften zu genießen, da ein zuverſichtliches Gefuͤhl mich ahnden ließ, daß er ſeine ſchlimme Seite

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 144. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/152>, abgerufen am 23.11.2024.