Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

Bild:
<< vorherige Seite

Goetz von Berlichingen baute sich nach
und nach in meinem Geiste zusammen, das
Studium des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts beschäftigte mich, und jenes
Münstergebäude hatte einen sehr ernsten Ein¬
druck in mir zurückgelassen, der als Hinter¬
grund zu solchen Dichtungen gar wohl dastehn
konnte.

Was ich über jene Baukunst gedacht und
gewähnt hatte, schrieb ich zusammen. Das
Erste worauf ich drang war, daß man sie
deutsch und nicht gothisch nennen, nicht
für ausländisch, sondern für vaterländisch hal¬
ten solle; das Zweyte, daß man sie nicht mit
der Baukunst der Griechen und Römer ver¬
gleichen dürfe, weil sie aus einem ganz ande¬
ren Princip entsprungen sey. Wenn jene, un¬
ter einem glücklicheren Himmel, ihr Dach auf
Säulen ruhen ließen, so entstand ja schon an
und für sich eine durchbrochene Wand. Wir
aber, die wir uns durchaus gegen die Witte¬

Goetz von Berlichingen baute ſich nach
und nach in meinem Geiſte zuſammen, das
Studium des fuͤnfzehnten und ſechzehnten
Jahrhunderts beſchaͤftigte mich, und jenes
Muͤnſtergebaͤude hatte einen ſehr ernſten Ein¬
druck in mir zuruͤckgelaſſen, der als Hinter¬
grund zu ſolchen Dichtungen gar wohl daſtehn
konnte.

Was ich uͤber jene Baukunſt gedacht und
gewaͤhnt hatte, ſchrieb ich zuſammen. Das
Erſte worauf ich drang war, daß man ſie
deutſch und nicht gothiſch nennen, nicht
fuͤr auslaͤndiſch, ſondern fuͤr vaterlaͤndiſch hal¬
ten ſolle; das Zweyte, daß man ſie nicht mit
der Baukunſt der Griechen und Roͤmer ver¬
gleichen duͤrfe, weil ſie aus einem ganz ande¬
ren Princip entſprungen ſey. Wenn jene, un¬
ter einem gluͤcklicheren Himmel, ihr Dach auf
Saͤulen ruhen ließen, ſo entſtand ja ſchon an
und fuͤr ſich eine durchbrochene Wand. Wir
aber, die wir uns durchaus gegen die Witte¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0156" n="148"/><hi rendition="#g">Goetz von Berlichingen</hi> baute &#x017F;ich nach<lb/>
und nach in meinem Gei&#x017F;te zu&#x017F;ammen, das<lb/>
Studium des fu&#x0364;nfzehnten und &#x017F;echzehnten<lb/>
Jahrhunderts be&#x017F;cha&#x0364;ftigte mich, und jenes<lb/>
Mu&#x0364;n&#x017F;tergeba&#x0364;ude hatte einen &#x017F;ehr ern&#x017F;ten Ein¬<lb/>
druck in mir zuru&#x0364;ckgela&#x017F;&#x017F;en, der als Hinter¬<lb/>
grund zu &#x017F;olchen Dichtungen gar wohl da&#x017F;tehn<lb/>
konnte.</p><lb/>
        <p>Was ich u&#x0364;ber jene Baukun&#x017F;t gedacht und<lb/>
gewa&#x0364;hnt hatte, &#x017F;chrieb ich zu&#x017F;ammen. Das<lb/>
Er&#x017F;te worauf ich drang war, daß man &#x017F;ie<lb/><hi rendition="#g">deut&#x017F;ch</hi> und nicht <hi rendition="#g">gothi&#x017F;ch</hi> nennen, nicht<lb/>
fu&#x0364;r ausla&#x0364;ndi&#x017F;ch, &#x017F;ondern fu&#x0364;r vaterla&#x0364;ndi&#x017F;ch hal¬<lb/>
ten &#x017F;olle; das Zweyte, daß man &#x017F;ie nicht mit<lb/>
der Baukun&#x017F;t der Griechen und Ro&#x0364;mer ver¬<lb/>
gleichen du&#x0364;rfe, weil &#x017F;ie aus einem ganz ande¬<lb/>
ren Princip ent&#x017F;prungen &#x017F;ey. Wenn jene, un¬<lb/>
ter einem glu&#x0364;cklicheren Himmel, ihr Dach auf<lb/>
Sa&#x0364;ulen ruhen ließen, &#x017F;o ent&#x017F;tand ja &#x017F;chon an<lb/>
und fu&#x0364;r &#x017F;ich eine durchbrochene Wand. Wir<lb/>
aber, die wir uns durchaus gegen die Witte¬<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[148/0156] Goetz von Berlichingen baute ſich nach und nach in meinem Geiſte zuſammen, das Studium des fuͤnfzehnten und ſechzehnten Jahrhunderts beſchaͤftigte mich, und jenes Muͤnſtergebaͤude hatte einen ſehr ernſten Ein¬ druck in mir zuruͤckgelaſſen, der als Hinter¬ grund zu ſolchen Dichtungen gar wohl daſtehn konnte. Was ich uͤber jene Baukunſt gedacht und gewaͤhnt hatte, ſchrieb ich zuſammen. Das Erſte worauf ich drang war, daß man ſie deutſch und nicht gothiſch nennen, nicht fuͤr auslaͤndiſch, ſondern fuͤr vaterlaͤndiſch hal¬ ten ſolle; das Zweyte, daß man ſie nicht mit der Baukunſt der Griechen und Roͤmer ver¬ gleichen duͤrfe, weil ſie aus einem ganz ande¬ ren Princip entſprungen ſey. Wenn jene, un¬ ter einem gluͤcklicheren Himmel, ihr Dach auf Saͤulen ruhen ließen, ſo entſtand ja ſchon an und fuͤr ſich eine durchbrochene Wand. Wir aber, die wir uns durchaus gegen die Witte¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/156
Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/156>, abgerufen am 24.11.2024.