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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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säumnissen, Ungerechtigkeiten und Bestechun¬
gen, auf einen jungen Menschen machen mu߬
te, der das Gute wollte, und sein Inneres
in diesem Sinne bearbeitete, wird jeder Red¬
liche mitfühlen. Wo soll unter solchen Um¬
ständen Ehrfurcht vor dem Gesetz und dem
Richter entspringen? Aber hätte man auch auf
die Wirkungen der Visitation das größte Zu¬
trauen gesetzt, hätte man glauben können,
daß sie völlig ihre hohe Bestimmung erfüllen
werde; für einen frohen vorwärts schreitenden
Jüngling war doch hier kein Heil zu finden.
Die Förmlichkeiten dieses Processes an sich
gingen alle auf ein Verschleifen; wollte man
einigermaßen wirken und etwas bedeuten, so
mußte man nur immer demjenigen dienen, der
Unrecht hatte, stets dem Beklagten, und in
der Fechtkunst der verdrehenden und auswei¬
chenden Streiche recht gewandt seyn.

Ich verlor mich daher einmal über das
andre, da mir, in dieser Zerstreuung, keine

ſaͤumniſſen, Ungerechtigkeiten und Beſtechun¬
gen, auf einen jungen Menſchen machen mu߬
te, der das Gute wollte, und ſein Inneres
in dieſem Sinne bearbeitete, wird jeder Red¬
liche mitfuͤhlen. Wo ſoll unter ſolchen Um¬
ſtaͤnden Ehrfurcht vor dem Geſetz und dem
Richter entſpringen? Aber haͤtte man auch auf
die Wirkungen der Viſitation das groͤßte Zu¬
trauen geſetzt, haͤtte man glauben koͤnnen,
daß ſie voͤllig ihre hohe Beſtimmung erfuͤllen
werde; fuͤr einen frohen vorwaͤrts ſchreitenden
Juͤngling war doch hier kein Heil zu finden.
Die Foͤrmlichkeiten dieſes Proceſſes an ſich
gingen alle auf ein Verſchleifen; wollte man
einigermaßen wirken und etwas bedeuten, ſo
mußte man nur immer demjenigen dienen, der
Unrecht hatte, ſtets dem Beklagten, und in
der Fechtkunſt der verdrehenden und auswei¬
chenden Streiche recht gewandt ſeyn.

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[224/0232] ſaͤumniſſen, Ungerechtigkeiten und Beſtechun¬ gen, auf einen jungen Menſchen machen mu߬ te, der das Gute wollte, und ſein Inneres in dieſem Sinne bearbeitete, wird jeder Red¬ liche mitfuͤhlen. Wo ſoll unter ſolchen Um¬ ſtaͤnden Ehrfurcht vor dem Geſetz und dem Richter entſpringen? Aber haͤtte man auch auf die Wirkungen der Viſitation das groͤßte Zu¬ trauen geſetzt, haͤtte man glauben koͤnnen, daß ſie voͤllig ihre hohe Beſtimmung erfuͤllen werde; fuͤr einen frohen vorwaͤrts ſchreitenden Juͤngling war doch hier kein Heil zu finden. Die Foͤrmlichkeiten dieſes Proceſſes an ſich gingen alle auf ein Verſchleifen; wollte man einigermaßen wirken und etwas bedeuten, ſo mußte man nur immer demjenigen dienen, der Unrecht hatte, ſtets dem Beklagten, und in der Fechtkunſt der verdrehenden und auswei¬ chenden Streiche recht gewandt ſeyn. Ich verlor mich daher einmal uͤber das andre, da mir, in dieſer Zerſtreuung, keine

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/232>, abgerufen am 23.11.2024.