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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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Seitdem jenes leidenschaftliche Mädchen
meine Lippen verwünscht und geheiligt, (denn
jede Weihe enthält ja beydes,) hatte ich mich,
abergläubisch genug, in Acht genommen, ir¬
gend ein Mädchen zu küssen, weil ich solches
auf eine unerhörte geistige Weise zu beschädi¬
gen fürchtete. Ich überwand daher jede Lü¬
sternheit, durch die sich der Jüngling ge¬
drungen fühlt, diese viel oder wenig sa¬
gende Gunst einem reizenden Mädchen ab¬
zugewinnen. Aber selbst in der sittigsten Ge¬
sellschaft erwartete mich eine lästige Prüfung.
Eben jene, mehr oder minder geistreichen,
sogenannten kleinen Spiele, durch welche ein
munterer jugendlicher Kreis gesammelt und
vereinigt wird, sind großentheils auf Pfän¬
der gegründet, bey deren Einforderung die
Küsse keinen unbedeutenden Lösewerth haben.
Ich hatte mir nun ein für allemal vorgenom¬
men, nicht zu küssen, und wie uns irgend ein
Mangel oder Hinderniß zu Thätigkeiten auf¬
regt, zu denen man sich sonst nicht hinge¬

Seitdem jenes leidenſchaftliche Maͤdchen
meine Lippen verwuͤnſcht und geheiligt, (denn
jede Weihe enthaͤlt ja beydes,) hatte ich mich,
aberglaͤubiſch genug, in Acht genommen, ir¬
gend ein Maͤdchen zu kuͤſſen, weil ich ſolches
auf eine unerhoͤrte geiſtige Weiſe zu beſchaͤdi¬
gen fuͤrchtete. Ich uͤberwand daher jede Luͤ¬
ſternheit, durch die ſich der Juͤngling ge¬
drungen fuͤhlt, dieſe viel oder wenig ſa¬
gende Gunſt einem reizenden Maͤdchen ab¬
zugewinnen. Aber ſelbſt in der ſittigſten Ge¬
ſellſchaft erwartete mich eine laͤſtige Pruͤfung.
Eben jene, mehr oder minder geiſtreichen,
ſogenannten kleinen Spiele, durch welche ein
munterer jugendlicher Kreis geſammelt und
vereinigt wird, ſind großentheils auf Pfaͤn¬
der gegruͤndet, bey deren Einforderung die
Kuͤſſe keinen unbedeutenden Loͤſewerth haben.
Ich hatte mir nun ein fuͤr allemal vorgenom¬
men, nicht zu kuͤſſen, und wie uns irgend ein
Mangel oder Hinderniß zu Thaͤtigkeiten auf¬
regt, zu denen man ſich ſonſt nicht hinge¬

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[16/0024] Seitdem jenes leidenſchaftliche Maͤdchen meine Lippen verwuͤnſcht und geheiligt, (denn jede Weihe enthaͤlt ja beydes,) hatte ich mich, aberglaͤubiſch genug, in Acht genommen, ir¬ gend ein Maͤdchen zu kuͤſſen, weil ich ſolches auf eine unerhoͤrte geiſtige Weiſe zu beſchaͤdi¬ gen fuͤrchtete. Ich uͤberwand daher jede Luͤ¬ ſternheit, durch die ſich der Juͤngling ge¬ drungen fuͤhlt, dieſe viel oder wenig ſa¬ gende Gunſt einem reizenden Maͤdchen ab¬ zugewinnen. Aber ſelbſt in der ſittigſten Ge¬ ſellſchaft erwartete mich eine laͤſtige Pruͤfung. Eben jene, mehr oder minder geiſtreichen, ſogenannten kleinen Spiele, durch welche ein munterer jugendlicher Kreis geſammelt und vereinigt wird, ſind großentheils auf Pfaͤn¬ der gegruͤndet, bey deren Einforderung die Kuͤſſe keinen unbedeutenden Loͤſewerth haben. Ich hatte mir nun ein fuͤr allemal vorgenom¬ men, nicht zu kuͤſſen, und wie uns irgend ein Mangel oder Hinderniß zu Thaͤtigkeiten auf¬ regt, zu denen man ſich ſonſt nicht hinge¬

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/24>, abgerufen am 09.11.2024.