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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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kenntniß entspringender Dünkel verführte zu
den seltsamsten Angewohnheiten und Unarten.
Zu einem solchen Abarbeiten in der Selbstbe¬
obachtung berechtigte jedoch die aufwachende
empirische Psychologie, die nicht gerade alles
was uns innerlich beunruhigt, für bös und
verwerflich erklären wollte, aber doch auch
nicht alles billigen konnte; und so war ein
ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬
sen zu führen und zu unterhalten übertraf
nun Lenz alle übrigen Un- oder Halbbeschäf¬
tigten, welche ihr Inneres untergruben, und
so litt er im Allgemeinen von der Zeitgesin¬
nung, welche durch die Schilderung Werther's
abgeschlossen seyn sollte; aber ein individueller
Zuschnitt unterschied ihn von allen übrigen,
die man durchaus für offene redliche Seelen
anerkennen mußte. Er hatte nämlich einen
entschiedenen Hang zur Intrigue, und zwar
zur Intrigue an sich, ohne daß er eigentliche
Zwecke, verständige, selbstische, erreichbare
Zwecke dabey gehabt hätte; vielmehr pflegte

kenntniß entſpringender Duͤnkel verfuͤhrte zu
den ſeltſamſten Angewohnheiten und Unarten.
Zu einem ſolchen Abarbeiten in der Selbſtbe¬
obachtung berechtigte jedoch die aufwachende
empiriſche Pſychologie, die nicht gerade alles
was uns innerlich beunruhigt, fuͤr boͤs und
verwerflich erklaͤren wollte, aber doch auch
nicht alles billigen konnte; und ſo war ein
ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬
ſen zu fuͤhren und zu unterhalten uͤbertraf
nun Lenz alle uͤbrigen Un- oder Halbbeſchaͤf¬
tigten, welche ihr Inneres untergruben, und
ſo litt er im Allgemeinen von der Zeitgeſin¬
nung, welche durch die Schilderung Werther's
abgeſchloſſen ſeyn ſollte; aber ein individueller
Zuſchnitt unterſchied ihn von allen uͤbrigen,
die man durchaus fuͤr offene redliche Seelen
anerkennen mußte. Er hatte naͤmlich einen
entſchiedenen Hang zur Intrigue, und zwar
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[375/0383] kenntniß entſpringender Duͤnkel verfuͤhrte zu den ſeltſamſten Angewohnheiten und Unarten. Zu einem ſolchen Abarbeiten in der Selbſtbe¬ obachtung berechtigte jedoch die aufwachende empiriſche Pſychologie, die nicht gerade alles was uns innerlich beunruhigt, fuͤr boͤs und verwerflich erklaͤren wollte, aber doch auch nicht alles billigen konnte; und ſo war ein ewiger nie beyzulegender Streit erregt. Die¬ ſen zu fuͤhren und zu unterhalten uͤbertraf nun Lenz alle uͤbrigen Un- oder Halbbeſchaͤf¬ tigten, welche ihr Inneres untergruben, und ſo litt er im Allgemeinen von der Zeitgeſin¬ nung, welche durch die Schilderung Werther's abgeſchloſſen ſeyn ſollte; aber ein individueller Zuſchnitt unterſchied ihn von allen uͤbrigen, die man durchaus fuͤr offene redliche Seelen anerkennen mußte. Er hatte naͤmlich einen entſchiedenen Hang zur Intrigue, und zwar zur Intrigue an ſich, ohne daß er eigentliche Zwecke, verſtaͤndige, ſelbſtiſche, erreichbare Zwecke dabey gehabt haͤtte; vielmehr pflegte

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/383>, abgerufen am 26.11.2024.