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Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814.

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er sich immer etwas Fratzenhaftes vorzusetzen,
und eben deswegen diente es ihm zur bestän¬
digen Unterhaltung. Auf diese Weise war er
Zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, seine
Liebe wie sein Haß waren imaginär, mit sei¬
nen Vorstellungen und Gefühlen verfuhr er
willkührlich, damit er immer fort etwas zu
thun haben möchte. Durch die verkehrtesten
Mittel suchte er seinen Neigungen und Ab¬
neigungen Realität zu geben, und vernichtete
sein Werk immer wieder selbst; und so hat er
Niemanden den er liebte, jemals genützt, Nie¬
manden den er haßte, jemals geschadet, und
im Ganzen schien er nur zu sündigen, um
sich strafen, nur zu intriguiren, um eine
neue Fabel auf eine alte pfropfen zu können.

Aus wahrhafter Tiefe, aus unerschöpfli¬
cher Productivität ging sein Talent hervor, in
welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfin¬
digkeit mit einander wetteiferten, das aber,
bey aller seiner Schönheit, durchaus kränkelte,

er ſich immer etwas Fratzenhaftes vorzuſetzen,
und eben deswegen diente es ihm zur beſtaͤn¬
digen Unterhaltung. Auf dieſe Weiſe war er
Zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, ſeine
Liebe wie ſein Haß waren imaginaͤr, mit ſei¬
nen Vorſtellungen und Gefuͤhlen verfuhr er
willkuͤhrlich, damit er immer fort etwas zu
thun haben moͤchte. Durch die verkehrteſten
Mittel ſuchte er ſeinen Neigungen und Ab¬
neigungen Realitaͤt zu geben, und vernichtete
ſein Werk immer wieder ſelbſt; und ſo hat er
Niemanden den er liebte, jemals genuͤtzt, Nie¬
manden den er haßte, jemals geſchadet, und
im Ganzen ſchien er nur zu ſuͤndigen, um
ſich ſtrafen, nur zu intriguiren, um eine
neue Fabel auf eine alte pfropfen zu koͤnnen.

Aus wahrhafter Tiefe, aus unerſchoͤpfli¬
cher Productivitaͤt ging ſein Talent hervor, in
welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfin¬
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[376/0384] er ſich immer etwas Fratzenhaftes vorzuſetzen, und eben deswegen diente es ihm zur beſtaͤn¬ digen Unterhaltung. Auf dieſe Weiſe war er Zeitlebens ein Schelm in der Einbildung, ſeine Liebe wie ſein Haß waren imaginaͤr, mit ſei¬ nen Vorſtellungen und Gefuͤhlen verfuhr er willkuͤhrlich, damit er immer fort etwas zu thun haben moͤchte. Durch die verkehrteſten Mittel ſuchte er ſeinen Neigungen und Ab¬ neigungen Realitaͤt zu geben, und vernichtete ſein Werk immer wieder ſelbſt; und ſo hat er Niemanden den er liebte, jemals genuͤtzt, Nie¬ manden den er haßte, jemals geſchadet, und im Ganzen ſchien er nur zu ſuͤndigen, um ſich ſtrafen, nur zu intriguiren, um eine neue Fabel auf eine alte pfropfen zu koͤnnen. Aus wahrhafter Tiefe, aus unerſchoͤpfli¬ cher Productivitaͤt ging ſein Talent hervor, in welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfin¬ digkeit mit einander wetteiferten, das aber, bey aller ſeiner Schoͤnheit, durchaus kraͤnkelte,

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3. Tübingen, 1814, S. 376. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_leben03_1814/384>, abgerufen am 27.11.2024.