Er leitete meine Aufmerksamkeit auf die verschiedenen Gemählde, die an der Wand aufgehängt waren, mein Auge hielt sich an die, deren Anblick reizend, oder deren Gegen¬ stand bedeutend war; er ließ es eine Weile geschehen, dann sagte er: gönnen Sie nun auch dem Genius, der diese Werke hervorge¬ bracht hat, einige Aufmerksamkeit. Gute Ge¬ müther sehen so gerne den Finger Gottes in der Natur, warum sollte man nicht auch der Hand seines Nachahmers einige Betrachtung schenken? Er machte mich sodann auf un¬ scheinbare Bilder aufmerksam, und suchte mir begreiflich zu machen, daß eigentlich die Ge¬ schichte der Kunst uns bloß den Begriff von dem Werth und der Würde eines Kunstwerks geben könne, daß man erst die beschwerlichen Stufen des Mechanismus und des Hand¬ werks, an denen der fähige Mensch sich Jahr¬ hunderte lang hinauf arbeitet, kennen müsse
Er leitete meine Aufmerkſamkeit auf die verſchiedenen Gemählde, die an der Wand aufgehängt waren, mein Auge hielt ſich an die, deren Anblick reizend, oder deren Gegen¬ ſtand bedeutend war; er ließ es eine Weile geſchehen, dann ſagte er: gönnen Sie nun auch dem Genius, der dieſe Werke hervorge¬ bracht hat, einige Aufmerkſamkeit. Gute Ge¬ müther ſehen ſo gerne den Finger Gottes in der Natur, warum ſollte man nicht auch der Hand ſeines Nachahmers einige Betrachtung ſchenken? Er machte mich ſodann auf un¬ ſcheinbare Bilder aufmerkſam, und ſuchte mir begreiflich zu machen, daß eigentlich die Ge¬ ſchichte der Kunſt uns bloß den Begriff von dem Werth und der Würde eines Kunſtwerks geben könne, daß man erſt die beſchwerlichen Stufen des Mechanismus und des Hand¬ werks, an denen der fähige Menſch ſich Jahr¬ hunderte lang hinauf arbeitet, kennen müſſe
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Er leitete meine Aufmerkſamkeit auf die
verſchiedenen Gemählde, die an der Wand
aufgehängt waren, mein Auge hielt ſich an
die, deren Anblick reizend, oder deren Gegen¬
ſtand bedeutend war; er ließ es eine Weile
geſchehen, dann ſagte er: gönnen Sie nun
auch dem Genius, der dieſe Werke hervorge¬
bracht hat, einige Aufmerkſamkeit. Gute Ge¬
müther ſehen ſo gerne den Finger Gottes in
der Natur, warum ſollte man nicht auch der
Hand ſeines Nachahmers einige Betrachtung
ſchenken? Er machte mich ſodann auf un¬
ſcheinbare Bilder aufmerkſam, und ſuchte mir
begreiflich zu machen, daß eigentlich die Ge¬
ſchichte der Kunſt uns bloß den Begriff von
dem Werth und der Würde eines Kunſtwerks
geben könne, daß man erſt die beſchwerlichen
Stufen des Mechanismus und des Hand¬
werks, an denen der fähige Menſch ſich Jahr¬
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 3. Frankfurt (Main) u. a., 1795, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre03_1795/344>, abgerufen am 06.01.2025.
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