verzogener Nahme unter dem äußern Glase befestigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein, worauf eben ihr Bild gemahlt werden sollte, als sie mir unglücklicher Weise durch den Tod entrissen wurde. Lothario's Neigung beglückte mich in dem Augenblicke, da mir ihr Verlust noch sehr schmerzhaft war, und ich wünschte die Lücke, die sie mir in ihrem Geschenk zurückgelassen hatte, durch das Bild meines Freundes auszufüllen.
Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein Schmuckkästchen, und eröfne es in seiner Ge¬ genwart; kaum sieht er hinein, so erblickt er ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauen¬ zimmers, er nimmt es in die Hand, betrach¬ tet es mit Aufmerksamkeit, und fragt hastig: wen soll dies Portrait vorstellen? -- Meine Mutter, versetzte ich -- hätt' ich doch ge¬ schworen, rief er aus, es sey das Portrait einer Frau von Saint Alban, die ich vor
verzogener Nahme unter dem äußern Glaſe befeſtigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein, worauf eben ihr Bild gemahlt werden ſollte, als ſie mir unglücklicher Weiſe durch den Tod entriſſen wurde. Lothario’s Neigung beglückte mich in dem Augenblicke, da mir ihr Verluſt noch ſehr ſchmerzhaft war, und ich wünſchte die Lücke, die ſie mir in ihrem Geſchenk zurückgelaſſen hatte, durch das Bild meines Freundes auszufüllen.
Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein Schmuckkäſtchen, und eröfne es in ſeiner Ge¬ genwart; kaum ſieht er hinein, ſo erblickt er ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauen¬ zimmers, er nimmt es in die Hand, betrach¬ tet es mit Aufmerkſamkeit, und fragt haſtig: wen ſoll dies Portrait vorſtellen? — Meine Mutter, verſetzte ich — hätt’ ich doch ge¬ ſchworen, rief er aus, es ſey das Portrait einer Frau von Saint Alban, die ich vor
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verzogener Nahme unter dem äußern Glaſe
befeſtigt, inwendig blieb ein leeres Elfenbein,
worauf eben ihr Bild gemahlt werden ſollte,
als ſie mir unglücklicher Weiſe durch den
Tod entriſſen wurde. Lothario’s Neigung
beglückte mich in dem Augenblicke, da mir
ihr Verluſt noch ſehr ſchmerzhaft war, und
ich wünſchte die Lücke, die ſie mir in ihrem
Geſchenk zurückgelaſſen hatte, durch das Bild
meines Freundes auszufüllen.
Ich eile nach meinem Zimmer, hole mein
Schmuckkäſtchen, und eröfne es in ſeiner Ge¬
genwart; kaum ſieht er hinein, ſo erblickt er
ein Medaillon mit dem Bilde eines Frauen¬
zimmers, er nimmt es in die Hand, betrach¬
tet es mit Aufmerkſamkeit, und fragt haſtig:
wen ſoll dies Portrait vorſtellen? — Meine
Mutter, verſetzte ich — hätt’ ich doch ge¬
ſchworen, rief er aus, es ſey das Portrait
einer Frau von Saint Alban, die ich vor
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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/108>, abgerufen am 21.11.2024.
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