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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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sein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬
fen braucht.

Therese kam auf sein Zimmer, und bat
um Verzeihung, daß sie ihn störe, hier in
dem Wandschrank, sagte sie, steht meine
ganze Bibliothek, es sind eher Bücher, die
ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬
die verlangt ein geistliches Buch, es findet
sich wohl auch eins und das andere darun¬
ter. Die Menschen, die das ganze Jahr
weltlich sind, bilden sich ein, sie müßten zur
Zeit der Noth geistlich seyn, sie sehen alles
Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die
man mit Widerwillen zu sich nimmt, wenn
man sich schlecht befindet, sie sehen in einem
Geistlichen, einem Sittenlehrer nur einen
Arzt, den man nicht geschwind genug aus
dem Hause los werden kann; ich aber ge¬
stehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬
griff als von einer Diät, die eben dadurch

ſein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬
fen braucht.

Thereſe kam auf ſein Zimmer, und bat
um Verzeihung, daß ſie ihn ſtöre, hier in
dem Wandſchrank, ſagte ſie, ſteht meine
ganze Bibliothek, es ſind eher Bücher, die
ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬
die verlangt ein geiſtliches Buch, es findet
ſich wohl auch eins und das andere darun¬
ter. Die Menſchen, die das ganze Jahr
weltlich ſind, bilden ſich ein, ſie müßten zur
Zeit der Noth geiſtlich ſeyn, ſie ſehen alles
Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die
man mit Widerwillen zu ſich nimmt, wenn
man ſich ſchlecht befindet, ſie ſehen in einem
Geiſtlichen, einem Sittenlehrer nur einen
Arzt, den man nicht geſchwind genug aus
dem Hauſe los werden kann; ich aber ge¬
ſtehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬
griff als von einer Diät, die eben dadurch

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[109/0113] ſein ganzes vorhergehendes Leben wegzuwer¬ fen braucht. Thereſe kam auf ſein Zimmer, und bat um Verzeihung, daß ſie ihn ſtöre, hier in dem Wandſchrank, ſagte ſie, ſteht meine ganze Bibliothek, es ſind eher Bücher, die ich nicht wegwerfe, als die ich aufhebe. Ly¬ die verlangt ein geiſtliches Buch, es findet ſich wohl auch eins und das andere darun¬ ter. Die Menſchen, die das ganze Jahr weltlich ſind, bilden ſich ein, ſie müßten zur Zeit der Noth geiſtlich ſeyn, ſie ſehen alles Gute und Sittliche wie eine Arzeney an, die man mit Widerwillen zu ſich nimmt, wenn man ſich ſchlecht befindet, ſie ſehen in einem Geiſtlichen, einem Sittenlehrer nur einen Arzt, den man nicht geſchwind genug aus dem Hauſe los werden kann; ich aber ge¬ ſtehe gern, ich habe vom Sittlichen den Be¬ griff als von einer Diät, die eben dadurch

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 109. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/113>, abgerufen am 21.11.2024.