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Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796.

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den Muth das Wagestück zu versuchen, und
sich jene Nacht bey Ihnen einzuschleichen.
Schon war sie vorausgelaufen, um sich in
der unverschlossenen Stube zu verbergen, al¬
lein als sie eben die Treppe hinaufgekom¬
men war, hörte sie ein Geräusch, sie ver¬
barg sich, und sah ein weißes, weibliches
Wesen in ihr Zimmer schleichen. Sie kamen
selbst bald darauf, und sie hörte den großen
Riegel zuschieben.

Mignon empfand unerhörte Qual, alle
die heftigen Empfindungen einer leidenschaft¬
lichen Eifersucht mischten sich zu dem uner¬
kannten Verlangen einer dunkeln Begierde,
und griffen die halb entwickelte Natur ge¬
waltsam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬
sucht und Erwartung lebhaft geschlagen hatte,
fing auf einmal an zu stocken, und drückte,
wie eine bleyerne Last, ihren Busen, sie
konnte nicht zu Athem kommen, sie wußte

den Muth das Wageſtück zu verſuchen, und
ſich jene Nacht bey Ihnen einzuſchleichen.
Schon war ſie vorausgelaufen, um ſich in
der unverſchloſſenen Stube zu verbergen, al¬
lein als ſie eben die Treppe hinaufgekom¬
men war, hörte ſie ein Geräuſch, ſie ver¬
barg ſich, und ſah ein weißes, weibliches
Weſen in ihr Zimmer ſchleichen. Sie kamen
ſelbſt bald darauf, und ſie hörte den großen
Riegel zuſchieben.

Mignon empfand unerhörte Qual, alle
die heftigen Empfindungen einer leidenſchaft¬
lichen Eiferſucht miſchten ſich zu dem uner¬
kannten Verlangen einer dunkeln Begierde,
und griffen die halb entwickelte Natur ge¬
waltſam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬
ſucht und Erwartung lebhaft geſchlagen hatte,
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[281/0285] den Muth das Wageſtück zu verſuchen, und ſich jene Nacht bey Ihnen einzuſchleichen. Schon war ſie vorausgelaufen, um ſich in der unverſchloſſenen Stube zu verbergen, al¬ lein als ſie eben die Treppe hinaufgekom¬ men war, hörte ſie ein Geräuſch, ſie ver¬ barg ſich, und ſah ein weißes, weibliches Weſen in ihr Zimmer ſchleichen. Sie kamen ſelbſt bald darauf, und ſie hörte den großen Riegel zuſchieben. Mignon empfand unerhörte Qual, alle die heftigen Empfindungen einer leidenſchaft¬ lichen Eiferſucht miſchten ſich zu dem uner¬ kannten Verlangen einer dunkeln Begierde, und griffen die halb entwickelte Natur ge¬ waltſam an. Ihr Herz, das bisher vor Sehn¬ ſucht und Erwartung lebhaft geſchlagen hatte, fing auf einmal an zu ſtocken, und drückte, wie eine bleyerne Laſt, ihren Buſen, ſie konnte nicht zu Athem kommen, ſie wußte

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Zitationshilfe: Goethe, Johann Wolfgang von: Wilhelm Meisters Lehrjahre. Bd. 4. Frankfurt (Main) u. a., 1796, S. 281. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/goethe_lehrjahre04_1796/285>, abgerufen am 22.11.2024.